Elfjähriger fährt mit Lkw nach Hamburg und taucht unter. Bezirksamt Mitte gab ihn als Pflegekind in einen Wanderzirkus.

Hamburg. Wer hat Jeremie gesehen? Auch zwei Tage nach dem Verschwinden des Elfjährigen, der am Dienstag aus einem Wanderzirkus in Mecklenburg-Vorpommern flüchtete und vermutlich allein in einem Klein-Lkw nach Hamburg fuhr, hat die Polizei ihn noch nicht aufgreifen können. Die leibliche Familie des Jungen erhebt schwere Vorwürfe gegen die Betreiber des Zirkus, in dem der Junge seit zwei Jahren lebte. Das Jugendamt, das die Obhut über den Jungen innehat, habe sich zudem nicht ausreichend gekümmert. Die Zirkusbetreiber vermuten hingegen, dass die leibliche Familie die Flucht des Jungen ermöglicht habe.

Wegen "schwerwiegender Probleme" im Familienumfeld - die Eltern waren drogensüchtig - war der Junge aus Billstedt im Alter von neun Jahren aus der Familie genommen und im Rahmen eines Erziehungsprojekts bei den Betreibern des Zirkus Monaco untergebracht worden. Das Jugendamt Hamburg-Mitte hatte, nachdem eine Betreuung im Heim sich als nicht möglich erwies, das "individualpädagogische Angebot" des diakonischen Jugendhilfe-Trägers Neukirchener Erziehungsverein wahrgenommen. Der Verein organisiert langfristige Unterbringungen auf Bauern- und Ponyhöfen, im Zirkus und sogar bei reisenden Stunt-Shows. Schulunterricht erhalten die Problemkinder, die auf diese Weise in die Gesellschaft integriert werden sollen, nur via Computer.

Im Bezirksamt Mitte heißt es, dass im Bereich der Pädagogik manchmal auch ungewöhnliche Wege beschritten werden müssten, um besonders problematische Kinder oder Jugendliche zu erreichen. Um einen solchen Fall handele es sich bei Jeremie.

Der Vorgang schlägt unterdessen auch politisch Wellen. "Erlebnispädagogik ist ein wichtiger Baustein des Jugendhilfeangebots, aber die Unterbringung des Kindes in einem Wanderzirkus und die Umstände seines Verschwindens werfen Fragen auf", sagt Christiane Blömeke, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Grünen. Gerade wenn ein Jugendamt ein Kind an einen Träger außerhalb Hamburgs übergebe, müsse man erwarten können, dass die Kontrolle der Hilfsmaßnahme besonders engmaschig sei. "Es darf nicht die Devise gelten: Raus aus Hamburg, aus den Augen, aus dem Sinn", sagt Blömeke. Im Moment habe sie starke Zweifel, dass das Jugendamt Mitte hier seine Obhuts- und Kontrollpflicht ausreichend ausgeübt habe.

Melanie Leonhard, Fachsprecherin für Familie, Kinder und Jugend der SPD-Bürgerschaftsfraktion, fordert, dass die Verantwortlichen im Bezirk Mitte den Fall prüfen. "Grundsätzlich gibt es jedoch strenge Regeln, nach denen entschieden wird, bei welchen Pflegefamilien oder Einrichtungen ein Kind geeignet untergebracht wird." Fin-Ole Ritter, sozialpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, sagte, es sei deutlich, dass sich die Auffälligkeiten beim Jugendamt in Mitte häufen. Dies könne ein "Zeichen dafür sein, dass es dort eine Überlastung gibt". Kein Verständnis für den Umgang mit dem Fall Jeremie hat Angela Westfehling aus der FDP-Bezirksfraktion Mitte. "Ich halte es nicht für richtig, einen Neunjährigen aus seinem Umfeld zu reißen, wenn auch aus pädagogischen Gründen", sagt Westfehling. "Besonders, da das Kind anscheinend arbeiten musste, ist mir schleierhaft, wieso ein Zirkus der richtige Aufenthaltsort für einen solchen Jungen sein soll."