Pflegekind Jeremie kam auf den Beschluss des Jugendamts in einen Wanderzirkus. Jetzt ist es weg. Die Vorgeschichte eines rätselhaften Falls.

Billstedt/Lübtheen. Mit einem Anruf versuchte Jeremie, seinen Großvater zu beruhigen. Es scheint, als wisse der Junge, wie die Ungewissheit den 70-Jährigen mitnimmt. Bruno Ansin weint, er schaut auf das Foto seines Enkels, den er großzog, den er neben sich im Bett schlafen ließ, der sein ganzer Stolz ist - auch wenn er alles andere als ein einfaches Kind war und ist. Bis gestern Abend hatte die Polizei kaum eine Spur zu dem Elfjährigen, den das Jugendamt Mitte über einen Träger der Jugendhilfe in einem Wanderzirkus untergebracht hatte. Von dort war Jeremie ausgerissen - in einem Mercedes-Transporter, der später in Billstedt nahe dem Reihenhaus seiner Großeltern wiederentdeckt wurde. Seitdem sucht die Polizei nach dem Kind. Dessen nach eigener Aussage von ihrer Drogensucht kurierte Mutter und die Großeltern erheben schwere Vorwürfe gegen das Jugendamt und die Familie S., die den Zirkus Monaco betreibt. Dort zeigt man sich überrascht von der Flucht des Jungen - und bezichtigt wiederum die leibliche Familie, diese ermöglicht zu haben.

Offenbar liebt Jeremie das Spiel mit dem Feuer: In einem kurzen Video sieht man den Jungen, wie er in professioneller Art Feuer schluckt. Aufgenommen hat es Jeremies Schwester bei einem Besuch vor mehreren Wochen. Ein Junge, der unter der Obhut des Bezirksamts Mitte steht, als Feuerschlucker: Teil des Erziehungskonzepts für ein Problemkind? "Manchmal muss man ungewöhnliche Wege gehen", sagt Sorina Weiland, Sprecherin des Bezirksamts Mitte. Der Träger, der Neukirchener Erziehungsverein (NEV), und die Maßnahme seien sorgfältig ausgewählt worden. Diese Art von Individualpädagogik wird bei Kindern und Jugendlichen angewandt, die es in Gruppen, zum Beispiel in Heimen, nicht aushalten. Der NEV ist eine Einrichtung der Diakonie in Nordrhein-Westfalen, hat auch eine Niederlassung in Billstedt. Sprecher Ulrich Schäfer: "Ein Bereich, in dem wir seit Jahren erfolgreich tätig sind, ist eben diese Individualpädagogik. Wir betreuen Kinder und Jugendliche zum Beispiel auf Bauern- oder Ponyhöfen, im Zirkus oder gar bei einer Stunt-Show, besuchen die sorgfältig ausgewählten Familien mindestens alle zwei Wochen. Es handelt sich um vorübergehende Maßnahmen, nicht um die Pflegefamilien." Ziel sei es, dass die Kinder Zuwendung und Vertrauen erfahren. Schulunterricht erhalten die betreffenden Kinder und Jugendlichen per Computer von einer Förderschule des NEV. Vor Ort kümmern sich Lernhelfer um die Kinder, die es zum Teil laut Schäfer bis zum Hauptschulabschluss schaffen.

Jeremies Eltern und Großeltern werfen dem Jugendamt, NEV und der Zirkusfamilie L. indes vor, für das Verschwinden ihres Sohnes und Enkels verantwortlich zu sein. Mutter Patricia: "Er hat immer wieder weinend angerufen, ist geschlagen und ausgenutzt worden. Er wollte nur zurück zu uns. Man hat ihn gezwungen, Diesel zu klauen und morgens um 6 Uhr die Ställe auszumisten. Schlafen muss er in einem unbeheizten Bauwagen." Großmutter Rosita hat Angst um den Jungen: "Er ist gutgläubig. Ich hoffe nur, dass er nicht auf einen Erwachsenen trifft, der seine Situation ausnutzt. Und ich hoffe, dass er überhaupt noch lebt."

Laut Sorina Weiland vom Bezirksamt Mitte war Jeremie vor zwei Jahren per Gerichtsbeschluss aus der Familie genommen worden, weil es dort "gravierende Vorfälle" gab. Er sei dann recht bald zu der Zirkusfamilie L. gekommen, die vor drei Wochen ihr Winterquartier vor den Toren Lübtheens, einer knapp 4000 Einwohner großen Gemeinde im Landkreis Ludwigslust-Parchim, bezogen hat. Der letzte Auftritt liegt bereits einige Wochen zurück. Vor einem Baumarkt im 20 Kilometer entfernten Wittenburg gaben sie die letzte diesjährige Vorstellung. Jetzt parken die Wohnwagen der Familie und die Tiertransporter auf dem großen Hof, die Familie hat es sich in einem einstöckigen Haus nahe der Hauptstraße gemütlich gemacht.

"Wir glauben nicht, dass Jeremie den alten Mercedes selbst gefahren hat", sagt einer der Zirkusleute. "Wie sollte er?" Der Wagen, der zum Zirkus-Fuhrpark gehört, habe keine Servolenkung, die Gangschaltung sei verschlissen. "Damit wäre er keinen Meter weit gekommen", sagt der Mann. "Wir glauben, dass ihn ein Verwandter aus Hamburg abgeholt hat." Jeremie sei das einzige Pflegekind gewesen, das der Zirkus aufgenommen habe. Die Zirkusbetreiber haben sieben eigene Kinder, zwei davon sind minderjährig. "Er hat sich hier wohlgefühlt", sagt der Mitarbeiter. "Es gab keinen Grund wegzulaufen." Dass Jeremie in dem Zirkus hart arbeiten musste, bestreitet er. "Feuerschlucker, das ist Quatsch." Obwohl: Jeremie habe schon immer gern gezündelt.

Wer Jeremie gesehen hat oder Hinweise auf seinen derzeitigen Aufenthaltsort geben kann, wird gebeten, sich an das Polizeikommissariat 42 unter der Rufnummer 040/4286-54210 oder jede andere Polizeidienststelle zu wenden.