Andere Sportarten klammern sich an ihre Regeln. Hockey erfindet sich immer wieder neu. In London haben Videobeweis und blauer Boden Premiere.

London. Ruhig war es geworden in der Riverbank Arena, so ruhig, dass die Stimme von Moritz Fürste auch auf den obersten Sitzreihen des olympischen Hockeystadions von London gut zu vernehmen war. "Die Belgier haben doch gar keinen Videobeweis mehr", rief der Spieler vom Uhlenhorster HC und rannte aufgeregt erst in Richtung der deutschen Bank, dann zu den Schiedsrichtern. Titelverteidiger Deutschland führte zweieinhalb Minuten vor dem Ende seines ersten Gruppenspiels mit 2:1, und Tim Pullman, der australische Videoobmann, hatte sich gerade darangemacht zu prüfen, ob den Belgiern nicht eine Strafecke zuzusprechen sei, weil einem deutschen Spieler der Ball an den Fuß gesprungen sein könnte.

Die strittige Szene ließ sich nicht eindeutig klären. Ebenso wenig wie die Frage, ob den Belgiern überhaupt das Recht zugestanden hatte, Einspruch gegen die Entscheidung der Schiedsrichter einzulegen. Offensichtlich tut sich die Sportart noch ein wenig schwer mit der Technik, die in London ihre olympische Premiere hat.

Bei der Champions Trophy 2009 wurde der Videobeweis im Hockey erstmals erprobt, seit der WM 2010 ist sein Einsatz international Standard. Bis dahin hatten nur die Schiedsrichter selbst das Recht, ihre Entscheidungen überprüfen zu lassen. Jetzt kann sie theoretisch der Kapitän jeder Mannschaft beliebig oft anfechten, sofern es ein Tor, eine Strafecke oder einen Siebenmeter betrifft. Allerdings erlischt dieses Recht, sobald die Wiederholung die Unparteiischen bestätigt.

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"Prinzipiell ist das eine gute Regel", findet Markus Weise, "die Schiedsrichter können gar nicht alle Situationen überblicken." Nur hat der Hamburger Bundestrainer im Verlauf des olympischen Turniers zu seinem Erstaunen feststellen müssen, dass viele Schiedsrichter auch nach dem Studium der Bilder die falschen Schlüsse gezogen hatten: "Da waren mehr falsche als richtige Entscheidungen dabei." Mit ein bisschen Übung werde das sicher noch klappen.

Als Weise, 49, noch selbst aktiv war, gab es die Abseitsregel noch, jede Mannschaft durfte nur drei Spielerwechsel vornehmen - und die Schläger waren vollständig aus Holz, ohne Zugabe von Verbundstoffen. Dem technischen Fortschritt haben sich die Regelhüter nie verschlossen.

Während im Fußball jahrelang über technische Hilfsmittel diskutiert wird und dann doch alles beim Alten bleibt, erfindet sich das Traditionsspiel immer wieder neu. Fast jährlich lässt der Weltverband FIH neue Regeln erproben. Fallen die Tests positiv aus, werden sie in der Regel von einem Turnier auf das nächste umgesetzt.

Der Videobeweis ist nicht die erste interessante Neuerung, mit der Hockey in letzter Zeit von sich reden machte. Vor vier Jahren in Peking etwa durfte der Ball bei einem Freischlag im Angriffsviertel noch nicht über den Schusskreis geschlenzt werden. Neu ist auch der sogenannte Selbstpass: Bei den meisten Standardsituationen muss der Ball jetzt nicht mehr abgespielt werden - der ausführende Spieler kann ihn sich einfach vorlegen.

Alle Regeländerungen dienen dem Ziel, das Spiel schneller und somit für die Zuschauer attraktiver zu machen. Aus diesem Grund wird auch erstmals mit einer gelben Kugel auf einem blauen Kunstrasen gespielt. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass das Spielgeschehen so besser zu verfolgen ist als in der traditionellen Farbkombination Weiß auf Grün. Die deutsche Fahnenträgerin Natascha Keller zeigte sich angetan: "Gerade wenn wir in weißen Trikots spielen, ist der Kontrast richtig klasse."

Markus Weise hat nichts gegen das Blau. "Aber ich finde, wir sind zu progressiv." Warum, fragt der Bundestrainer, könnten die Regeln nicht einfach einmal für fünf Jahre die gleichen bleiben? Den Wunsch wird ihm die FIH wohl nicht erfüllen. In Australien wurde bereits testweise mit neun gegen neun gespielt. Auch größere Tore sind seit Längerem in der Diskussion.

Der Videobeweis dürfte seinen Siegeszug auch in anderen Sportarten fortsetzen. Auf das Spiel gegen die Belgier am Montag hatte er keinen Einfluss. Deutschland gewann, wenn auch etwas mühsam, 2:1. Im heutigen zweiten Gruppenspiel (22.15 Uhr) gegen die Südkoreaner, die zum Auftakt mit 2:0 gegen Neuseeland erfolgreich waren, will Weise die Technik selbst einsetzen. Auf der deutschen Bank steht ein aufgeklappter Laptop, auf den sich der Bundestrainer während des Spiels über WLAN Bilder von Schlüsselszenen aufspielen lässt: von Strafecken oder Pressing-Situationen.

Gegen die Belgier hatte Weise von dieser Möglichkeit noch keinen Gebrauch gemacht. Er hatte seinen Laptop im Quartier vergessen.