Matthias Lehmann und Fabian Boll überzeugen in der Bundesliga als St. Paulis Abfangjäger vor der Abwehr mit Herz, Hirn - und Toren.

Hamburg. Montag, 11.25 Uhr, Kollaustraße. Nieselregen. Es ist der Tag nach dem Derby , der Tag nach dem 1:1 gegen den HSV, und Matthias Lehmann und Fabian Boll tun das, was sie eigentlich immer tun, wenn sie das braune Trikot des FC St. Pauli überstreifen: Sie laufen. Diesmal gemeinsam mit den neun Kollegen aus der Startelf. Das Tempo ist moderat, nach einer halben Stunde ist das Pensum absolviert, und die hell leuchtenden, durchnässten Joggingschuhe werden ausgezogen. Sie passen optisch ohnehin nicht an die Füße der beiden Mittelfeldspieler. Auf dem Platz tragen sie schwarze Schuhe, was in Zeiten von roter, grüner, silberner oder gar neongelber Fußbekleidung durchaus als Statement gewertet werden darf. Lehmann und Boll tragen keine aufwendigen Frisuren, spielen ohne Schnörkel und versuchen das grelle Scheinwerferlicht im Wanderzirkus Bundesliga zu meiden. Lehmann und Boll stehen für ehrliche Fußball-Arbeit und sind längst Klassiker beim FC St. Pauli. Jeder für sich, vor allem aber als kongeniales Duo vor der Abwehr.

An den beiden führt kein Weg vorbei, und das gilt für den Gegner meist genauso wie für Holger Stanislawski, der Lehmann und Boll bislang in allen fünf Pflichtspielen über die vollen 90 Minuten einsetzte. "Diese beiden sind gigantisch. Unglaublich, was die jede Woche abreißen", lobt der Trainer, "wir haben ihre Laufwege noch nicht messen lassen, aber das sind pro Spiel sicherlich mehr als elf Kilometer, die sie beide abspulen. Und es freut mich besonders, wenn solche Spieler dann auch noch Tore machen." Boll ist aktuell Toptorschütze seiner Mannschaft. Am ersten Spieltag gelang ihm beim 3:1-Sieg in Freiburg der wichtige Ausgleichstreffer, Sonntag war es das Führungstor gegen den HSV. Zum Vergleich: In der Regionalliga gelangen ihm mal vier Saisontore, in der Zweiten Liga höchstens zwei.

"Verwunderlich" findet das Stanislawski und gerät bei der Leistungsanalyse seines Mittelfeldspielers ins Grübeln. Boll ist ein Phänomen, so etwas wie ein Liga-Chamäleon. Vor vier Jahren war der heute 31-Jährige ein durchschnittlicher Regionalligaspieler, dem nach dem Aufstieg 2007 nicht wenige ein Darben auf der Auswechselbank prophezeiten. Doch Boll, der 2002 als Fan ans Millerntor wechselte, hielt mit der Entwicklung seines Vereins Schritt. Er wurde auch in der Zweiten Liga zum Stammspieler und strafte die Zweifler nach dem erneuten Aufstieg im Sommer weiter fleißig Lügen. Boll hat nicht nur seinen Platz verteidigt, er hat ihn gefestigt, ist Leistungsträger und in der Bundesliga angekommen. Jüngstes Dokument: die Berufung in die Elf des Tages im Fachmagazin "Kicker".

"Ich hätte mir das ja selbst nicht zugetraut", gesteht Boll, "mit 24 Jahren habe ich noch Oberliga gespielt. Und jetzt sind es schon vier Bundesligaspiele mehr, als ich mir je erträumt hatte." Ein Traum, für den er arbeitet wie kein anderer. Auch gestern schaute der Oberkommissar im Rahmen seiner Halbtagsstelle vor und nach dem Training auf der Polizeiwache 17 in Eimsbüttel vorbei. Das Spiel am Mittwoch bei Borussia Mönchengladbach (20 Uhr/Sky und im Liveticker auf abendblatt.de) wird ihn nicht nur Kraft, sondern auch drei Urlaubstage kosten.

Am Niederrhein wartet das fünfte Bundesligaspiel, natürlich an der Seite von Lehmann, 27, der das Rezept schon parat hat: "Wir müssen denen früh den Zahn ziehen, die stehen nach 0:11 Toren aus zwei Spielen ganz schön unter Druck." Und genau den will das Duo erhöhen. Durch konsequentes Stören, gutes Stellungsspiel, vorausahnende Spielweise, weite Wege und kluge Pässe, durch wechselnde Tempodosierung. All das eben, was es zuletzt auszeichnete. Lehmann, der 2009 aus Aachen kam, und Boll sind die Strategen im immer besser verteidigenden braun-weißen Kollektiv. "Matthias ist mein neuer Meggi", sagt Boll über den mit mehr fußballerischem Talent gesegneten Nebenmann in Anlehnung an seinen früheren Partner im defensiven Mittelfeld, den heutigen Co-Trainer Thomas Meggle, "er kann auch sehr schlecht verlieren, ist ein Charakter, wie er uns vor ein paar Jahren noch gefehlt hat. Wir ergänzen uns wirklich gut."

DIE SENKRECHTSTARTER DER BUNDESLIGA

Das Zusammenspiel der beiden sei wie in einer Ehe, findet Boll, der im Juli seine langjährige Freundin Alexandra heiratete, "da musst du dem anderen dann auch ab und zu auch mal in den Arsch treten." Dank Mladen Petrics Ausgleichstor am Sonntag hat diese auch weiter Bestand. "Wenn wir den HSV durch ein Tor von mir mit 1:0 geschlagen hätten, hätte ich aufhören müssen. Der Höhepunkt wäre wirklich nicht mehr zu toppen gewesen."