Der dienstälteste HSV-Profi sollte abgeschoben werden. Beim 2:1 gegen Hertha gelingt David Jarolim jedoch ein erstaunliches Comeback.

Berlin/Hamburg. Die Stimmung war ausgelassen. Auf dem kümmerlichen Restrasen der Imtech-Arena daddelten die Stammspieler gestern beim Kreisspiel mit einem Football-Ei, was für einige unvorgesehene, heitere Spielzüge sorgte. Von den Akteuren, die für den so wichtigen 2:1-Erfolg der Hamburger bei Hertha BSC verantwortlich zeichneten, fehlte aber einer der prominentesten: David Jarolim. Der Tscheche hatte es vorgezogen, allein im Volkspark einen Regenerationslauf einzulegen. "Ich konnte nicht anders, ich bin das einfach so gewohnt", erklärte der 32-Jährige später.

Das Laufen ist Jarolims Passion. Über seine persönliche Grenze hinaus war der 1,74 Meter große Mittelfeldspieler im Berliner Olympiastadion gerannt, stibitzte dem Gegner etliche Bälle und ließ sich kaum einen wegschnappen. Mit einer Fehlerquote von nur acht Prozent bei seinen Pässen trug der Tscheche maßgeblich dazu bei, dass das Spiel des HSV in viel geordneteren Bahnen verlief als zuletzt. Erst kurz vor Schluss rebellierte sein durchtrainierter Körper mit einem Krampf.

Der Auftritt Jarolims muss als eines der erstaunlichsten Comebacks in der Bundesliga-Geschichte des HSV eingestuft werden. Noch vor einer Woche wurde der frühere tschechische Nationalspieler ausgemustert und sollte ablösefrei abgeschoben werden. Von der Vereinsseite erhielt er das Signal, sich einen neuen Arbeitgeber zu suchen, da er beim HSV keine Zukunft mehr habe.

Das Aus für Jarolim, einer der Letzten einer vom Aussterben bedrohten Spielergeneration, schien gekommen. In seiner neunten HSV-Saison, nach 243 Erstligaspielen. Als er 2003 das erste Mal mit roten Hosen auflief, standen neben ihm noch Profis wie Martin Pieckenhagen oder Stefan Beinlich, die längst Geschichte sind. Und vor dieser Saison erwischte es beim Umbau die Alten wie Frank Rost, Ruud van Nistelrooy oder Zé Roberto.

+++ Sala und Diekmeier überzeugten +++

Doch wie schon so oft bei früheren HSV-Trainern erweist sich Jarolim als Überlebenskünstler. Die 90 Minuten von Berlin reichten Thorsten Fink, um sein Veto für einen Transfer einzulegen: "Wir haben nie gesagt, dass er weg soll", betonte der HSV-Trainer, "wir hatten nur versprochen, ihm einen Wechsel nicht zu verbauen, sollte er den HSV verlassen wollen, weil er sich Verdienste für den Verein erworben hat. Aber jetzt kommt er nicht mehr weg." Minuten später legte sich auch Jarolim vor der Busabfahrt fest: "Ich bleibe definitiv bis Mai in Hamburg." Dann läuft sein Vertrag aus. Und wenn der Fußballgott nicht eine erneute unvorsehbare Wende für Jarolims Karriere vorgesehen hat, kommt dieser nun doch noch in den Genuss eines angemessenen Abschieds - und zwar auf dem Platz.

Schon seit einigen Jahren hat Jarolim mit Klischees über seine Person zu kämpfen und sorgte gern mal beim Gegner für erhöhten Blutdruck, wenn er in seiner unnachahmlichen Art einen Freistoß herausgeholt hatte. Zur Not würde er sich einfach selbst ein Bein stellen, hieß es. In Berlin schien sich die Geschichte zu wiederholen, als Schiedsrichter Guido Winkmann nach gerade mal 16 Sekunden das erste Mal ein Foul an Jarolim pfiff. Vier Fouls an ihm waren es am Ende jedoch nur, sechsmal bremste er den Gegner nicht ganz regelkonform. Normale Werte. Ein anderer Vorwurf ist häufig, dass er den Ball zu lange hält und sein Stil deshalb nicht mehr zeitgemäß sei. Gegen Hertha bewies Jarolim ein weiteres Mal, dass dies mehr Dichtung als Wahrheit ist.

+++ Kommentar: Man sieht, wo der HSV steht +++

Eigentlich hätte es Jarolim verdient, ein Liebling der Massen zu sein. Die Treue zu einem Verein hat im modernen Legionärswesen Seltenheitswert, seine Loyalität in den vergangenen Monaten - seit 23. September hatte Jarolim nicht mehr in der Startformation gestanden - war bemerkenswert. Kein böses Wort des einstigen Kapitäns, der von Ex-Trainer Armin Veh seiner Binde beraubt wurde, stattdessen verbissene Arbeit und das Warten auf den Moment, in dem seine Chance wiederkommt. Aber der Spieler Jarolim animiert eben nicht zu Sprechchören. Er ist weder der gefeierte Torschütze noch der verwundbare Typ Fußballer, den die Anhänger beschützen wollen.

Immerhin hat der HSV inzwischen erkannt, dass Jarolim mit seinem vorbildhaften Charakter positiv auf die Jungen einwirken kann. Nach dem Ende seiner aktiven Karriere wird er weiter für den Klub arbeiten ("Ich könnte mir das Amt des Jugendtrainers vorstellen."), nur der Zeitpunkt ist ungewiss. Gemeinsam mit Sportdirektor Frank Arnesen hat Jarolim das Datum des Arbeitspapiers um zwei Jahre nach hinten korrigiert, auf Juli 2014. Bis dahin, hat Jarolim am Sonntag angekündigt, wolle er auf jeden Fall noch weiter dem Ball hinterherrennen. Unermüdlich, immer weiter, fast wie sein berühmter Landsmann Emil Zatopek, der Leichtathletik-Olympiasieger. "Den Jaro kennt man ja", sagte sein Teamkollege Mladen Petric anerkennend, "der ist fleißig und trainiert jeden Tag, als wenn es sein letzter wäre." Ein Beleg ist sein geringer Körperfettanteil, der zwischen sechs und sieben Prozent liegt.

Trotz aller Disziplin soll Jarolim auf der Busfahrt zurück nach Hamburg auf seine gelungene Rückkehr mit einem Bierchen angestoßen haben. Vor der Abfahrt standen schon einige Flaschen der Marke Pilsener Urquell griffbereit. "Das beste Bier der Welt", sagt Jarolim. Gebraut wird das Produkt seit 1842 in Tschechien - und ist trotz seines Alters immer noch topaktuell.

Statistik

Hertha : Kraft - Lell, Hubnik, Janker (22. Mijatovic), Kobiashvili - Ottl (76. Ronny), Lustenberger - Torun (46. Niemeyer), Ebert, Ramos - Lasogga. Trainer: Skibbe

Hamburg: Drobny - Diekmeier, Bruma, Westermann, Aogo - Rincon, Jarolim - Sala (90.+3 Son), Jansen (90.+1 Rajkovic) - Petric (85. Kacar), Guerrero. Trainer: Fink

Schiedsrichter : Winkmann (Kerken)

Tore: 0:1 Jansen (24.), 0:2 Petric (45.+1), 1:2 Lasogga (81.)

Zuschauer: 49.168

Torschüsse: 16:11

Ecken: 6:7

Ballbesitz: 49:51 Prozent

Lesen Sie den HSV-Blog im Internet unter www.abendblatt.de/matzab