Joachim Löw betreut die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in der HSV-Arena zum 75. Mal als Cheftrainer

Hamburg. Auf die Frage des niederländischen Kollegen, wo er am 21. Juni 1988 gewesen sei, weiß selbst er keine Antwort. Also behilft sich Joachim Löw zunächst mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung: "Vermutlich war ich im Café und habe einen Espresso getrunken. Da bin ich ja relativ häufig ..." Nachdem der Bundestrainer darüber aufgeklärt worden war, dass an jenem Tag die deutsche Nationalelf das Europameisterschafts-Halbfinale in Hamburg mit 1:2 gegen die Niederlande verloren hatte, korrigierte er sich: "Dann habe ich den Espresso zu Hause getrunken. Es könnte aber auch ein Glas Rotwein gewesen sein."

Keine Frage: Die Laune des 51-Jährigen vor dem heutigen Test gegen die Niederlande hätte nicht besser sein können. Löw begann die offizielle Presserunde in den Räumen von Sponsor Beiersdorf sogar mit einer Analyse des einstündigen Kleinfeldspiels am Sonntag gegen eine Auswahl von Nationalmannschafts-Reportern, das er mit seinem Betreuerteam 23:18 gewinnen konnte. "Eine so nicht zu erwartende Leistung", attestierte er den Journalisten und wählte seinen üblichen Duktus, als er beim Gegner "leichte Ansätze einer Dreierkette" erkannte.

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Weitaus weniger redselig war Löw indes, als die Rede auf sein persönliches Jubiläumsspiel kam. Dass er in der HSV-Arena zum 75. Mal die Nationalmannschaft als Cheftrainer betreut, bedeute ihm nichts und beschäftige ihn nicht, erklärte er knapp. Man nahm es ihm ab, dabei lohnt sich ein Blick auf die Zahlen durchaus, um das Prinzip Löw zu durchschauen, der mit durchschnittlich 2,24 Punkten (51 Siege, 13 Remis, zehn Niederlagen) die beste Bilanz aller Nationaltrainer aufweist.

Dass 50 von insgesamt 75 eingesetzten Spielern unter seiner Führung debütierten, beweist seinen stetigen Drang nach Erneuerung und Entwicklung. Gerade die permanente Veränderung hat erst den konstant hochwertigen Fußball ermöglicht. Das noch einmal mit Akteuren wie Götze, Kroos, Schürrle oder Hummels verjüngte Team ist deshalb keine zufällige Ansammlung von Fußballern. Löw hat eine klare Vision, wie er agieren lassen will, erstellt einen Plan und sucht dann nach dem geeigneten Personal. Über die Aussortierten wie Ballack, Frings, Kuranyi, aber auch Trochowski oder Westermann eine Liste zu führen würde sich inzwischen ebenfalls lohnen.

Bezogen auf die EM 2012 heißt dies, seine Mannschaft spielerisch, technisch und taktisch wieder einen Tick besser zu machen, um gegen die Mitfavoriten Spanien, die Niederlande oder Frankreich um den Titel streiten zu können. "Offensive", "Dominanz" und "Flexibilität", das sind Wörter, die der Systemtrainer Löw gerne benutzt. In diesen Momenten wird seine Stimme lauter und glasklar, sein badischer Dialekt verschwindet. Fast ähnelt er einem Professor an der Universität, der seinen Worten noch mehr Ausdruck verleiht, indem er Kunstpausen zwischen zwei Silben eines Wortes legt.

Was Löw sagt, ist Gesetz in Fußball-Deutschland, er hat alles unter Kontrolle, seine Macht ist so groß wie nie. Und das, obwohl es ihm weder als Co-Trainer unter Jürgen Klinsmann noch als Verantwortlichem bei der EM 2008 und der WM 2010 gelungen ist, einen Pokal zu erringen. Wenn heute Deutschland auf die Niederlande, die womöglich auf den leicht angeschlagenen Wesley Sneijder verzichten müssen, trifft, wird nicht mehr wie früher das Duell ungelenker Kraftprotz gegen verschwenderische Eleganz ausgetragen. Löw hat dem Land die Schönheit des Spiels wiedergegeben, sogar der Ball hat wieder Spaß beim DFB-Team.

Was den obersten deutschen Fußballlehrer auszeichnet, ist, sich auch im Erfolg immer wieder zu hinterfragen und sich Inspiration bei anderen Nationen zu holen. Dem Mann, dem ein "4:2 oder ein 3:3 lieber ist als ein 0:0 oder 1:0" (Löw), geht es darum, für seine Spieler ein Gebilde zu konstruieren, in dem diese ihre kreativen Fähigkeiten ausspielen können. Deshalb ist für ihn die taktische Ausrichtung fast noch entscheidender als das System. Erst dann, wenn ein Fußballer dieses Vorhaben umsetzt, kann nach seinem Verständnis eine EM spielerisch gewonnen werden. "Es war massiv nötig umzudenken", gab Löw am Ende dann doch zu, wie groß die Einschnitte in seiner Amtszeit waren, die in eine neue Fußballkultur mündeten, deren Schönheit aber ein Nebenprodukt ist. Einer wie Löw denkt an Effizienz. Schließlich will er am 1. Juli 2012 nicht mit einem Glas Rotwein zu Hause sitzen.