So häufig höre ich, ältere Menschen von der viel besseren, intensiveren Vergangenheit sprechen. Bisher blieb mir ein Rätsel, wie man dem Vergangenen überhaupt so verhaftet bleiben kann, dass der Status angenehmer erscheint als das Hier und Jetzt.

In den vergangenen Wochen habe ich unbewusst sehr viele Orte meiner Kindheit besucht und war schockiert. Da hat jemand einfach den Bergedorfer Bahnhof in Hamburg abgerissen. Nun klafft ein riesiges Loch in meiner Vergangenheit. Und überhaupt, wo ist der Laden, indem wir nach der Schule unsere Aladin-Sticker erstehen konnten? Und die Minigolfanlage, auf der ich an eine verrückte Besitzerin Briefmarken verkauft habe?

Ich erfahre, dass mein Grundschullehrer in Rente gegangen ist. Meine ehemalige Nachbarin ist vor einigen Jahren gestorben. Jene Frau, die immer Bonbons von ihrem Balkon geworfen hat und zur eigenen Erinnerung auf dem Bürgersteig anhielt, um "Brilli, Schlüssi, Geldi" murmelnd den Inhalt ihrer Tasche zu überprüfen. Ich will nicht wahrhaben, dass niemand meine Wurzeln pflegt.

An der nächsten Ecke entdecke ich doch ein bekanntes Gesicht, in unserem Bioladen. Hinter dem Tresen steht die altbekannte Verkäuferin. Ein gutes Gefühl. Ich kaufe eine Lakritzschlange, so wie früher. Bis ich zwölf war und wir weggezogen sind. Aber sie erkennt mich - und mein Herz hüpft. Wie beruhigend Vertrautes doch sein kann. Wir sprechen über die vielen Veränderungen - und auch sie regt sich auf. Wir haben etwas gemeinsam.

Zum ersten Mal kann ich diese Art Gespräche verstehen. Und ich kann mich jetzt besser damit abfinden, dass sich die Welt weiterdreht und ich keine Kontrolle habe. Aber ich habe meine Erinnerungen - an eine intensive, schöne Zeit. Denn was ist Vergangenheit wert, wenn man sich nicht an sie erinnert? Wir müssen sie für uns festhalten.

Franziska Pohlmann studiert Angewandte Kulturwissenschaften an der Uni Lüneburg.