Vernachlässigte Kinder: Wo liegen die sozialen Ursachen? Können Gesellschaft und die Kirchen gegensteuern? Ein Gespräch mit dem Sozialexperten Christian Bernzen.

DIE KIRCHEN: Herr Professor Bernzen, der Name Jessica steht für einen der vielen tragischen Fälle, mit denen Hamburg jüngst Schlagzeilen gemacht hat. Ist das eine zufällige Häufung oder ein gesellschaftliches Symptom?

CHRISTIAN BERNZEN: Ich glaube nicht, daß es sich um eine zufällige Häufung handelt. Es gibt Veränderungen, die sich in einer Zunahme von besonders eklatanten Fällen von Kindesvernachlässigung auswirken. Eine Gruppe von deklassierten Menschen in Deutschland hat die Hoffnung in sich selbst aufgegeben, aber auch die Gesellschaft hat die Hoffnung in sie aufgegeben. Das bildet sich, wenn diese Menschen Eltern sind, auch in ihrem Verhalten ab. Zum anderen gibt es, durch ungeklärte gesellschaftliche Probleme, mehr Belastungen und zugleich weniger belastbare Hilfssysteme und Solidaritätszusammenhänge.

DIE KIRCHEN: Wo sehen Sie die Ursachen für die gesteigerte Gefahr?

BERNZEN: Ich sehe Enttäuschungen, die bei Menschen dazu geführt haben, daß sie sich für ihr eigenes Leben kaum verantwortlich halten. Daneben gibt es bei den Stellen, die sich eigentlich um solche Menschen und um den Schutz der Kinder kümmern sollen, eine große Zahl von technokratischen und formalen Anforderungen. Ferner gibt es eine Stimmung, die mit dem Verlust des Vertrauens staatlicher Handlungsfähigkeit zu tun hat, und ein Gefühl, daß Solidarität sich nicht mehr lohnt.

DIE KIRCHEN: Ist die Gefahr für Kinder nur ein Phänomen der Unterschichten?

BERNZEN: Kinder und Jugendliche, die in außerordentlich unterprivilegierten Verhältnissen aufwachsen, sind weitaus intensiver gefährdet als andere. Früher war es für die Menschen wenigstens noch vorstellbar, am Arbeitsmarkt und in anderen sozialen Systemen Anschluß zu finden. Heute machen sie die gegenteilige Erfahrung. Das ist etwas, was wirkliche Veränderungen auslöst.

DIE KIRCHEN: Der Hamburger Senat hat ein Fünf-Punkte-Programm zum Kinderschutz vorgelegt, es gibt einen "Hamburger Appell". Wie bewerten Sie diese Initiativen?

BERNZEN: Entscheidend ist, daß Menschen in schwierigen sozialen Situationen ein Gesprächsangebot gemacht werden muß. Die Gesellschaft dieser Stadt muß sagen: Wir haben Erwartungen an euch, und wir stellen uns euren Erwartungen. Wir müssen die Hilfsangebote mit einer Art vertraglichem Modell verbinden, einem Sozialvertrag. Ich habe gar nichts gegen mehr Aufmerksamkeit in der Nachbarschaft - aber die Hoffnung, daß das ernsthaft etwas ändert, halte ich für naiv. Es geht darum, Teilhabechancen zu eröffnen, Menschen eine Chance zu geben, Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Damit haben wir aufgehört. Wir haben diesen Menschen gesagt: Eigentlich seid ihr gar nicht wirklich Mitglieder dieser Gesellschaft, ihr stört nur. Und Menschen, denen man das hinreichend oft erzählt, benehmen sich dann auch so.

DIE KIRCHEN: Welchen Beitrag können die Kirchen leisten?

BERNZEN: Viele derer, die von der Gesellschaft scheinbar nicht gebraucht werden, sind ja durchaus Kirchenmitglieder. Wie finden sie dort ihren Raum? Eine durchschnittliche Kirchengemeinde ist, so wie unsere Gesellschaft, eine Mittelstandsveranstaltung. Insofern nimmt die Kirche, sicher ganz ohne Absicht, vielfach an dieser Verdrängung teil. Man sollte nicht nur Betreuungs- und Hilfsangebote verbessern, sondern auch gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen. In wie vielen Pfarrgemeinderäten sind arbeitslose Menschen? Wie nehmen Menschen an der Gemeinde teil, die es auch sonst im Leben ein bißchen schwierig haben?

DIE KIRCHEN: Es gibt nicht nur Gewalt gegen Kinder, auch die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen steigt an.

BERNZEN: Das ist ganz wesentlich Folge einer unaufrichtigen Einwanderungspolitik. Zu einer durchgreifenden Verbesserung kommen wir nur dann, wenn wir bei der Einwanderung Chancen und Erwartungen definieren. Auch hier geht es darum, Gespräch in der Gesellschaft stattfinden zu lassen. Den jungen Menschen sollte die Gesellschaft sagen: Wir wollen etwas von euch, und ihr dürft etwas von uns wollen. Das heißt: Chancen und nicht Strafen. Wenn zum Vermitteln von Chancen auch Sanktionen gehören, muß man die auch anwenden.

DIE KIRCHEN: Haben Sie Angst davor, daß bei wiederholt kriminellen Jugendlichen der Ruf nach "Wegsperren" lauter wird?

BERNZEN: Das ist die klassische Reaktion eines Hilflosen. Als erster Impuls ist das ja ganz gut zu verstehen, aber nach einer gewissen Zeit stellt man fest, daß das nicht ausreicht.

DIE KIRCHEN: Hoffen Sie darauf, daß die tragischen Ereignisse in Hamburg eine Art Weckruf sein können für Politik und Gesellschaft?

BERNZEN: Ich sehe das kritisch. Wir haben eher einen Ruf nach Kontrolle, nicht nach dem Eröffnen von Chancen. Ein Beispiel sind etwa die Vorsorgeuntersuchungen für Kinder, die verbindlich gemacht werden sollen. Ich bin gegen eine Pflicht, aber man muß mit den Eltern sprechen, die nicht hingehen. Aus diesem großen staatlichen Geschenk darf nicht plötzlich eine Aufsicht über medizinische Entwicklung werden. Der Staat übernimmt da Verantwortung, die er in Wahrheit gar nicht tragen kann. Den Menschen, die ihre Aufgaben nicht allein bewältigen können, muß bei klarer Formulierung der Erwartungen Assistenz angeboten werden.

DIE KIRCHEN: Hat die Politik schon genügend erkannt, daß Familien- und Bildungspolitik enger zusammenhängen als früher?

BERNZEN: Ich glaube ja. Nur droht durcheinanderzukommen, wer die steuernde Rolle hat. Der Staat soll nicht selbst Verantwortung übernehmen, wenn es schwierig wird, sondern möglichst nicht-staatliche Akteure zum Handeln befähigen.

Dieser Gedanke ist zur Zeit gefährdet, weil der Gedanke der Autonomie und Eigenverantwortung zurücktritt. Wer sich nicht mehr entscheiden kann, kann sich auch nicht mehr dafür entscheiden, eigenverantwortlich und mit anderen solidarisch zu sein.

Prof. Dr. Christian Bernzen (43, kl. Foto) ist Rechtsprofessor und hat das Gutachten über das geschlossene Heim Feuerbergstraße erstellt.