INTERVIEW General Harald Kujat über Vertrauen, gemeinsame Werte und die Zukunft der westlichen Allianz. ABENDBLATT: Herr General Kujat, könnte es in einem Irak-Krieg eine Entwicklung geben, die zu einem Hilferuf der USA an die NATO führt? HARALD KUJAT: Nein, die USA haben eine Koalition der Willigen gebildet, die so überlegen ist, dass die militärischen Ziele relativ schnell erreicht werden können. Das ist eine militärische Operation des 21. Jahrhunderts gegen eine Armee, die noch tief im 20. Jahrhundert steckt. ABENDBLATT: Hat die NATO nach den jüngsten weltpolitischen Entwicklungen noch eine Zukunft? KUJAT: Ja. Die Allianz hat ja bereits in der Vergangenheit kritische Situationen gemeistert, ich erinnere an die Nachrüstungsdebatte oder die Diskussion um die Aufnahme neuer Mitglieder. Die NATO hat aber immer gezeigt, dass sie sich auf neue sicherheitspolitische und geopolitische Gegebenheiten einstellen kann. Sie ist auch gegenwärtig wieder in einem Prozess der Anpassung. Ich bin sehr optimistisch, was die Bedeutung der NATO für die Zukunft angeht. ABENDBLATT: 50 Jahre lang gab es einen klaren Auftrag. Der fehlt jetzt. Was hält die NATO noch zusammen? KUJAT: Es ist richtig, dass eine gemeinsam empfundene Bedrohung eine Allianz stärker zusammenschweißt. Das gilt für jedes Bündnis. Aber was die NATO-Mitgliedsstaaten eigentlich verbindet, sind die gemeinsamen Werte wie Demokratie, die Freiheit des Einzelnen und Rechtsstaatlichkeit. Auch die Erkenntnis, dass man auch in Zukunft aufeinander angewiesen sein wird, verbindet. Im Kalten Krieg waren die Risiken und ihre Abwehr sehr genau zu definieren. Heute werden wir mit schnellen krisenhaften Entwicklungen konfrontiert, wie zum Beispiel dem weltweiten Terrorismus. Eine Konsensbildung zwischen den Mitgliedsstaaten muss daher von Fall zu Fall erfolgen. Die Erfahrung zeigt, dass die Übereinstimmung in den Grundwerten diese Konsensbildung erleichtert. Hinzu kommt, dass man für gemeinsames Handeln bestimmte Voraussetzungen braucht, die in der NATO vorhanden sind. Wir haben beispielsweise eine sehr effiziente gemeinsame Kommandostruktur und ein Streitkräfteplanungssystem, das es sonst nirgendwo gibt. ABENDBLATT: Aber gerade die Wertegemeinschaft wird doch in der politischen Diskussion durchaus in Frage gestellt. KUJAT: Ich habe nicht diesen Eindruck. Es gibt immer Auffassungsunterschiede in Sachfragen, nicht in einer Frage, die den Kern des Bündnisses berührt. ABENDBLATT: Aber meinen Amerikaner nicht etwas anders, wenn sie von Frieden und Freiheit reden als Europäer? KUJAT: Ich kann das für die Gespräche hier in der Allianz eindeutig nicht bestätigen. Seit dem Ende des Kalten Krieges befassen sich unterschiedliche Organisationen mit Sicherheitspolitik. Sie haben unterschiedliche Ausgangspositionen wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen. Entscheidend ist, dass diese Organisationen im Hinblick auf Frieden, Sicherheit und Stabilität ein Höchstmaß an Komplementarität entwickeln. Die wichtigste Grundlage der NATO sind die gemeinsame Werteordnung und ein gemeinsames sicherheitspolitisches Konzept. Solange auf dieser Basis Entscheidungen getroffen werden, sehe ich die Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der Allianz gewahrt. Natürlich gibt es unterschiedliche nationale Interessen, und man muss immer sehen, wie die miteinander vereinbar sind. Deshalb brauchen wir die Diskussion und den Konsens. Der große Vorteil ist, dass man am Ende zu einer gemeinsamen Position kommt. Das Konsensprinzip hilft dabei. Es zwingt dazu, auch einmal nationale Aspekte hintenan zu stellen. Dies ist die große Stärke der Allianz. ABENDBLATT: Es gibt immer mehr Krisenherde auf der Welt. Besteht die Gefahr, dass sich die Allianz verzettelt? KUJAT: Die Allianz handelt, wenn die Mitgliedsstaaten ihre Sicherheitsinteressen berührt sehen und wenn es notwendig ist, einander beizustehen. Diese Handlungsfähigkeit muss aber auch im Einklang mit den militärischen Möglichkeiten stehen. Da ist die NATO gerade im Umbau, der es erlauben soll, flexibler und besser auf künftige Herausforderungen zu reagieren. Das nimmt natürlich Zeit in Anspruch; aber wir sind auf gutem Wege. ABENDBLATT: Ist da seit dem Ende des Kalten Krieges etwas versäumt worden? KUJAT: Das mag sein, aber die Allianz hat bereits 1991 mit ihrem sicherheitspolitischen Konzept vorausschauend reagiert. So fand dann auch die Bedrohung durch Terrorismus in dem 1999 überarbeiteten Konzept schon ihren Niederschlag. Zeit kostet der reale Anpassungsprozess. Nicht alle Mitglieder sind bereit oder in der Lage, große Summen für die Verteidigung auszugeben. Mir persönlich kommt es deshalb darauf an, dass wir insgesamt nicht den Anschluss an die militärischen Fähigkeiten der USA verlieren. ABENDBLATT: Ist der nicht schon verloren? KUJAT: Es gibt einige Bereiche mit starken Einbußen. Es wird auch nicht möglich sein, die technologische Lücke vollständig zu schließen. Wir müssen jedoch verhindern, dass sie sich weiter öffnet. Und wir müssen verhindern, dass sich die technologische Lücke auf die Planung und Führung von Operationen auswirkt. Wir versuchen deshalb auch, Bereiche zu definieren, in denen wir auf derselben Ebene miteinander zusammenarbeiten können und diese Bereiche auszuweiten. Einer ist die NATO-Response-Force. Das ist eine Truppe aus allen Teilstreitkräften, die schnell verlegbar ist, eine hohe Einsatzbereitschaft hat und die nach NATO-Standards ausgebildet und ausgerüstet ist. ABENDBLATT: Wie weit ist dieser Umbau? KUJAT: Konzeptionell sind wir sehr weit. Sobald das Konzept verabschiedet ist, werden wir die Mitgliedsstaaten auffordern, Beiträge anzubieten. Die Aussichten sind insgesamt gut. Wir werden Teile der Response-Force schon vor dem Herbst 2004 einsatzbereit haben, und auch die volle Einsatzbereitschaft wird schneller erreicht sein als vorgesehen. ABENDBLATT: Ein funktionierendes Bündnis muss auf Vertrauen basieren. Gibt es derzeit aber nicht politisch ein tiefes Misstrauen zwischen Europa und Amerika? KUJAT: Die Diskussion, auf die Sie sich beziehen, ist nicht innerhalb der NATO geführt worden. Das ist wichtig. Sie wurde zwischen einzelnen Staaten geführt. Es gibt ja auch keine eindeutige Linie zwischen Europa und den USA. Daher gibt es innerhalb des Bündnisses auch keine Verwerfungen. Das ist für mich ein positives Zeichen. Man wird ja auch in Zukunft wieder in einer Weise miteinander reden müssen, die diese unterschiedlichen Auffassungen beseitigt. Langfristig werden wir allerdings unter Beweis stellen müssen, dass man nicht nur in der Lage ist, miteinander zu reden, sondern auch gemeinsam zu handeln.