Kurz nach halb zehn begann Tim K. in zwei Klassenräumen kaltblütig auf Schüler und Lehrer zu schießen. Auf seiner anschließenden Flucht tötete er weitere Menschen - bis er schließlich die Beretta-Pistole seines Vaters gegen sich selbst richtete.

Das Haus, in dem Tim K. an diesem Morgen erwacht, ist ein gepflegtes, großes Einfamilienhaus mit Wintergarten und roten Ziegeln, mitten im kleinen Örtchen Weiler zum Stein. Es ist ein Haus mit ungewöhnlich aufwendigen, blickdichten, Dunkelheit erzeugenden Außenjalousien. In diesem Haus bewohnt der 17-Jährige ein Zimmer im ersten Stock. Bekannte sagen, Fernsehgerät und Computer beanspruchten in diesem Zimmer viel Raum. Die Meldung, die an diesem Morgen die Nachrichten in Radio, TV und Internet beherrscht, kommt aus Samson (US-Staat Alabama). Es ist die Rede von einem Amokläufer, der dort wenige Stunden zuvor zehn Menschen erschossen hat.

Tim K. muss ins Schlafzimmer der Eltern gegangen sein. Er weiß, dass der Vater, ein mittelständischer Unternehmer und Sportschütze, dort eine Schusswaffe deponiert hat. Er nimmt die Waffe, eine Beretta-Pistole mit dem Kaliber 9 Millimeter, und rafft weit mehr als hundert Schuss Munition zusammen. Dann zieht Tim K. einen schwarzen Nahkampfanzug über, verlässt das Haus, setzt sich ins Auto (das er begleitet fahren darf), legt die Pistole auf den Beifahrersitz und fährt drei Kilometer weit nach Winnenden. Nach wenigen Minuten stoppt er den Wagen vor dem Gebäude, in dem ihm 2008 die Urkunde der mittleren Reife überreicht wurde: Er steht vor der terrassenförmig angelegten Albertville-Realschule.

Es ist 9.30 Uhr. Offenbar sieht niemand in der Schule, die weder als Brennpunkt noch als Elite-Institut gilt, den maskierten Mann kommen. Der Unterricht läuft. Die zehnten Klassen, jene Schüler also, die kurz vor ihrem Realschulabschluss stehen, werden in nebeneinanderliegenden Räumen unterrichtet. Die Schüler, meist 15- und 16-Jährige, haben Physik und Chemie.

Wortlos, so berichten Zeugen später, reißt Tim, der inzwischen eine Sturmhaube übergezogen hat, die erste der Klassenraumtüren auf. Er schießt, verlässt das Zimmer, geht ins nächste, schießt, geht wieder in den ersten Klassenraum, schießt sich durch eine verschlossene Tür. "Seid ihr immer noch nicht alle tot?", das ist der einzige Satz, an den Schülerinnen sich später erinnern. In wenigen Minuten sterben acht Mädchen und ein Junge, die von der Tür aus gesehen links in den Klassenräumen sitzen. Die Lehrerin wird am Versuchstisch des Physikraums niedergestreckt.

Um 9.33 Uhr geht der erste Notruf bei der Polizei in Winnenden ein. "In der Schule wird geschossen, es gibt mindestens zwei Verletzte!" Das Ausmaß des Dramas ist noch nicht abzuschätzen, für niemanden. Wenige Minuten nach dem Notruf ist ein Interventionsteam der Polizei Winnenden in der Schule. Die Beamten sagen später, dass sie den Täter noch gesehen haben. Als die Beamten in die Schule stürmen, rennt Tim im ersten Stock umher. Als er die Beamten bemerkt, nimmt er auch sie ins Visier und feuert den Treppenaufgang hinab. Dann läuft er weg, entkommt auf unbekanntem Weg aus dem Schulgebäude. Zwei Lehrerinnen, die ihm entgegenkommen, schießt er nieder. Es ist 9.40 Uhr. Der Täter flüchtet. Immer wieder gehen unterdessen Anrufe bei der Polizeistation in Winnenden ein. Schüler schildern in dramatischen Worten, was sie sehen, hören, vermuten und fürchten. Den Beamten bleibt nichts anderes übrig, als die Anrufer anzuweisen, ruhig zu bleiben, weil der Täter noch im Gebäude sein könnte. Im Minutentakt fordern sie weitere Kräfte an. Einige Schüler klettern über Feuerleitern ins Freie oder springen aus Fenstern. Nach zehn Minuten, sagt Baden-Württembergs Polizeichef Erwin Hetger später, seien 240 Beamte vor Ort gewesen, später mehr als 1000.

Der Täter aber ist bereits weg. Unweit der Schule stürmt der 17-Jährige an der psychiatrischen Großklinik Winnenden vorbei. Einen Mitarbeiter, der ihm vor dem Klinikum begegnet, schießt er einfach nieder. Um 9.40 Uhr stirbt dieser auf einer Rasenfläche. Einen Mann (41), der in seinem VW Sharan auf eine Verwandte wartet, zwingt er, ihn über die A 81 in Richtung Stuttgart zu fahren. Die Schüler, die den Amoklauf überleben, liegen verschanzt in ihren Klassenräumen. 90 Minuten harren sie dort aus, zum Teil neben den Erschossenen. Per Handy haben die Jugendlichen die Polizei über die Identität des Täters informiert. Fast alle kennen Tim, der ein Jahrgang vor ihnen in ihren Klassenräumen saß. Sie hatten keine Chance, sich zu wehren. "Die Toten", so sagt Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech später, "hatten teilweise noch ihre Schreibstifte in der Hand."

Der VW Sharan, in dem der Amokschütze und seine Geisel unterwegs sind, rast mittlerweile in Richtung Wendlingen. Polizisten versuchen unterdessen, Kontakt zu den Eltern des Todesschützen aufzunehmen. Sie erreichen Vater und Mutter, bestellen sie in die Polizeidienststelle. "Aus diesen Gesprächen haben wir keine Hinweise auf die Motivationslage gewinnen können", sagt der Polizeichef später. Um 10 Uhr betreten Polizeibeamte das Wohnhaus der Familie K. in Weiler zum Stein. Sie hoffen, hier Hinweise zum weiteren Tatplan oder zur Motivation des Flüchtigen zu finden.

Während sich vor der Albertville-Realschule immer mehr Eltern einfinden, die verzweifelt versuchen, ihre Kinder per Mobiltelefon zu erreichen, postiert die Polizei Beamte vor allen anderen Schulen des Landkreises. Die Befürchtung: K. könne auch dort morden wollen. Die Gegend um den Tatort Winnenden gleicht mittlerweile einem Kriegsgebiet, in Ringen hat die Polizei das Gebiet abgeriegelt. Sie kontrolliert alle Hauptstraßen, alle verfügbaren Hubschrauber sind in der Luft, rund um die Schule verfolgen Suchhunde die Spur des Täters. In Durchsagen werden Autofahrer davor gewarnt, Anhalter mitzunehmen.

Der Amokläufer ist mittlerweile 40 Kilometer entfernt. Er hat sich, nachdem der Fahrer des VW Sharan den Wagen bei Wendlingen auf einem Sandwall festgefahren hat, zu Fuß auf den Weg gemacht. Seine Geisel rennt zu einem Polizeiposten. Tim K. erreicht ein nahes Gewerbegebiet. Es ist 12 Uhr. K., noch immer wie im Blutrausch, betritt den Verkaufsraum eines Gebrauchtwagenhändlers. Dort befinden sich ein Verkäufer und ein Kunde in Preisverhandlungen. Der 17-Jährige erschießt beide. Zivilbeamte, die herbeigerast waren, nimmt er unter Dauerfeuer. Beide werden schwer verletzt. Ein Streifenwagen wird von fünf Kugeln getroffen. Präzisionsschützen des SEK treffen ein, gehen in Position. Bei der ersten Gelegenheit schießen sie und treffen Tim am Bein. Er bricht zusammen. Doch die Jagd ist noch nicht beendet. Er steht noch einmal auf, lädt die Pistole durch und schießt. Dann richtet er die Waffe gegen seinen Kopf und drückt zum letzten Mal ab.

Weit über hundert Schuss Munition hat der 17-Jährige bei seinem beispiellosen Amoklauf abgegeben. Der Zugang, so sagt Baden-Württembergs Innenminister später, sei ihm offenbar leicht gemacht worden. 14 seiner 15 scharfen Waffen lagerte Tims Vater Jörg im Safe. Die Beretta mit mehreren Hundert Schuss Munition aber lag im Schlafzimmer.

Vor der Schule in Winnenden versammeln sich am Nachmittag Schüler und Eltern, Kerzen werden aufgestellt, Leichenwagen bringen die Körper der Erschossenen, nachdem die Spurensicherung abgeschlossen ist, in die Gerichtsmedizin. Notfallseelsorger nehmen sich der traumatisierten Kinder an.

In Berlin und Stuttgart, Winnenden und Weiler zum Stein formulieren Bundeskanzlerin und Bundespräsident, Minister und Bürgermeister ihr Mitgefühl. Die Stadt Erfurt, vor sieben Jahren Schauplatz eines Amoklaufs mit 17 Toten, bietet ihre Hilfe bei der Bewältigung des Geschehenen an. Doch dafür ist es noch zu früh. Zunächst bleibt die Albertville-Realschule versiegelt. Die Suche nach einem Auslöser für die Tat ist alles andere als abgeschlossen: Der Computer des Amokläufers soll durchsucht, mögliche musikalische Einflüsse oder Beeinflussung durch Computerspiele sollen durchleuchtet werden.

Vieles deutet am Abend jedoch darauf hin, dass Tim, ein eher schlechter Schüler, nicht am Computer, sondern im heimischen Keller das Schießen übte - mit den Waffen des Vaters? Erwin Hetger, der Polizeipräsident Baden-Württembergs, sieht sich den Tatort, an dem die überlebenden Kinder ausharren mussten, am Nachmittag an: "Das kannst du nicht verkraften", sagt er.

Um 20 Uhr versammeln sich Betroffene zu einem Trauergottesdienst in der katholischen Kirche St. Karl Borromäus in Winnenden. Es ist der Versuch, die Sprachlosigkeit zu überwinden und das Unbegreifliche in Worte zu fassen.