Tim K. ist ein Niemand. Ein Junge, über den kaum einer etwas weiß. Wie im Nebel scheint er zu verschwinden. “Er war nie auffällig“, resümiert...

Tim K. ist ein Niemand. Ein Junge, über den kaum einer etwas weiß. Wie im Nebel scheint er zu verschwinden. "Er war nie auffällig", resümiert Baden-Württembergs Kultusminister Helmut Rau (CDU) gestern ratlos. Polizei, Staatsanwaltschaft und auch Tims Eltern haben "keinerlei Hinweis auf das Motiv", sagt Landespolizeipräsident Erwin Hetger.

Tim ist ein typisches Kind zu Geld gekommener schwäbischer Häuslebauer. Sein Vater betreibt eine Verpackungsfirma mit 120 Angestellten, die Familie lebt in einem großen, modernen Einfamilienhaus in Weiler zum Stein, einem 3000-Einwohner-Ortsteil von Leutenbach im hügeligen, bewaldeten Rems-Muss-Kreis. Es gibt nur wenige Straßen, aber einen Tennisklub, das Blasorchester "Gut Ton" und den Fußballverein FSV.

Die Familie sei normal ins Gemeinde- und Vereinsleben integriert gewesen, sagt Bürgermeister Jürgen Kiesl. Er kennt die Eltern gut und hat Tim vor Jahren zweimal als Sportler geehrt. Was in Tim gestern vorging? Kiesl ist rat- und fassungslos.

Im TSV Leutenbach ist Tim "als netter und guter Tischtennisspieler in Erinnerung", sagt die Vorsitzende Eva Sebele. In der Bezirksrangliste stand er als Schüler sogar einmal auf Rang 1. Das war 2001. Zuletzt betreibt Tim Kraftsport. Sein Vater ist Mitglied im Schützenverein SSV Leutenbach, Tim kommt als "gelegentlicher Gastschütze" mit, so die Polizei.

Auf Nachbarn wirkt er freundlich und höflich. Einer findet allerdings, Tim sei ein "Angebertyp". Er habe oft angegeben mit dem vielen Geld, das der Vater ihm zusteckte. Also ein Junge, der nach Anerkennung hungert?

Daran können sich ehemalige Mitschüler an der Albertville-Realschule in Winnenden nicht erinnern: Tim sei ruhig, höflich. Kein "Macho", aber auch kein Außenseiter. Eben unauffällig.

Nur einer, Mario H., bezeichnet Tim als Einzelgänger. "Er wurde einfach von niemandem akzeptiert, saß den ganzen Tag eigentlich nur daheim vor dem Computer", sagt Mario dem Radiosender Hit-Radio Antenne 1. Mario erinnert sich, dass Tim mit elf oder zwölf Jahren "diese Spielzeugwaffen, diese Softair" gehabt habe. Damit hätten er und andere Jungs auf dem Spielplatz manchmal aufeinander geschossen. Aber ist das "auffällig"?

Tim sei "nicht lernstark" gewesen, sagen Lehrer der Realschule. Laut Mario waren Tims Schulleistungen "schlecht bis mangelhaft", "seit er auf der Realschule war, hat er jedes Jahr so gerade geschafft".

Vielleicht hatten sich die Eltern mehr erwartet. Sie bezahlen Tim den Führerschein, er bekommt als 17-Jähriger erst mal die Fahrerlaubnis für "begleitetes Fahren", so ein Leutenbacher Fahrschulbetreiber. Nach der Realschule schicken die Eltern Tim auf die private kaufmännische Schule Donner & Partner in Waiblingen, so ein Mitschüler. Das einjährige Kolleg bereitet auf eine kaufmännische Ausbildung vor. Bei Donner & Partner wollte das gestern niemand bestätigen. "Von welchem Mitschüler haben Sie das?", fragt die Sekretärin.

Vermutlich hoffen die Eltern, dass Tim noch einmal die Kurve kriegt, es vielleicht zur Fachhochschulreife bringt. Wie gefährdet, wie gefährlich er ist, bleibt allen verborgen.

Nichts deutet bisher auf eine "angekündigte" Gewalttat hin, auf Rache etwa wegen erlittener ungerechter Behandlung. Mitschüler erzählen, er sei ein "Computer-Nerd" gewesen. Hat er kurz zuvor übers Internet vom Amoklauf im US-Bundesstaat Alabama erfahren? Hat ihn gerade seine Freundin verlassen, wie ein Bekannter behauptet? War Frauenhass der Auslöser? "Es ist auffällig, dass primär Mädchen getötet wurden", sagt Innenminister Heribert Rech.

Vielleicht liegt Tims Motiv nicht im Hass auf die Schule, auf Mitschüler oder Mädchen. In Großstädten wird Wut auf der Straße ausagiert. In Land- und Kleinstädten aber ist die Schule für Jugendliche der wichtigste, oft der einzige soziale Anlaufpunkt, wissen sogenannte School-Shooting-Forscher. Der Ort, an dem sich Wut, Kränkungen, Rachegefühle entladen.

Und der Tathergang spiegelt, wie aus diesem scheinbar so ruhigen, höflichen, unauffälligen Mittelstandsjungen ungeheure Aggression hervorbricht. Tim plant genau. Er weiß, wo die einzige nicht weggeschlossene Pistole des Vaters liegt. Er nimmt Munition für ein Massaker mit. Er zieht einen Kampfanzug an. Er "ballert in seiner früheren Schule nicht blindlings drauflos", so die Ermittler, sondern hält die Waffe frontal auf die Köpfe der nächsten Schülerinnen und Schüler. Gezielte Kopfschüsse.