Ein Hamburger Psychiater hält es für denkbar, dass der Amoklauf von Alabama nur Stunden später jenen von Winnenden ausgelöst hat. Doch die Ursachen liegen tiefer. Lebte auch Tim K. in einer Nebenrealität, wie Experten es nennen?

Hamburg. Seit den frühen Morgenstunden meldeten die deutschen Nachrichtensender, dass ein Amokläufer in den USA mindestens zehn Menschen erschossen habe. Experten schließen nicht aus, dass dies ein auslösendes Moment für die Bluttat von Winnenden war. "Grundsätzlich kann es so gewesen sein. Der Schüler kann sich den Täter aus Alabama als Vorbild genommen haben", sagt Dr. Arthur Robert Ballin, Oberarzt der Ambulanz der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), dem Abendblatt. "Aber ob das wirklich so war, werden wir nicht erfahren, sofern der Täter darüber vor seinem Tod nichts aufgeschrieben hat."

Fest steht laut Ballin, dass Amokläufe meist nicht aus heiterem Himmel geschehen. "Im Nachhinein entsteht häufig der Eindruck, dass eine solche Tat systematisch vorbereitet worden ist", sagt der Psychiater, "denn rückblickend lässt sich meist nachzeichnen, dass es eine längere Vorgeschichte gibt. In diesem Sinne ist ein Amoklauf keine Kurzschlussreaktion, er ist aber auch nicht geplant."

Das Problem sei, frühzeitig wichtige Signale zu erkennen und richtig zu deuten. "Der spätere Täter leidet an sozialen und persönlichen Defiziten, die dazu führen, dass er Verletzungen und Kränkungen schwerer bewältigen kann als andere Menschen", so der Psychiater, der in der Uni-Klinik auch für Gutachten für Gerichtsverfahren zuständig ist. "Um erlebte Probleme abzuwehren, greifen viele Menschen zu Drogen, lenken sich mit Fernsehen ab oder leben vermehrt in Tagträumen. Bei einigen wachsen sich Tagträume zu so genannten Nebenrealitäten aus. In dieser Kunstwelt fühlen sie sich groß, stark, unverletzbar."

Durch das große Angebot an Filmen und Videospielen sei es auch ein Leichtes, diese Nebenrealität auszuleben, sich in sie hineinzusteigern, sie sozusagen zu pflegen - und einige Elemente aus der Nebenrealität fließen plötzlich in die Lebenswelt ein. Beispielsweise beginnt der Täter ein Schießtraining, er posiert mit Waffen für Fotos oder inszeniert gewaltverherrlichende Videos. "Der Täter steigert sich schließlich so weit in diese Nebenrealität hinein, dass er den Bezug zur Realität verliert."

Auslöser für den Amoklauf könnten dann Kleinigkeiten sein. Die Nebenrealität wird Realität. Die Tat verübt der Amokläufer meist dort, wo er die meisten Verletzungen, Kränkungen oder Enttäuschungen erlebt hat - er will Rache nehmen. Während der Tat funktioniere die Impulskontrolle nicht, sagt Ballin, es seien keine Hemmungen mehr vorhanden, die Tat laufe zielgerichtet und ruhig ab. Einige Täter begehen in dem Moment Selbstmord oder provozieren ihre Tötung durch andere, wenn sie in die Wirklichkeit zurückkehren.

Auffällig ist auch, dass sich Amokläufer häufig wie Kampffiguren aus dem Internet oder Computerspielen kleiden und vorzugsweise Schwarz tragen. Wer diese Farbe wählt, so haben Farb-Psychologen schon bei früheren Fällen konstatiert, will sich abgrenzen, unnahbar oder bedrohlich wirken. Schwarz ist die Farbe des Todes. Henker und Sensenmann tragen sie, Rabenvögel galten lange als Todesboten. Schwarz ist auch die Farbe des Unglücks, wie der Ausspruch vom "schwarzen Freitag" zeigt.

Die Kriminologin Britta Bannenberg von der Uni Gießen rechnet nach dem Amoklauf von Winnenden mit einem Nachahmungseffekt. "Diejenigen, die sich schon gedanklich mit so etwas befassen, die werden angeregt, es jetzt wieder zu versuchen", so die Professorin im Deutschlandradio Kultur. Man könne jetzt sicher vorhersagen, dass in den nächsten zwei Monaten an allen Schulen Deutschlands vermehrt Bedrohungslagen entstehen würden.