Deutschland darf dem Vertrag von Lissabon vorerst nicht zustimmen. Das Bundesverfassungsgericht will die Rechte von Bundestag und Bundesrat stärken.

Karlsruhe. Für die glühenden Europa-Anhänger ist das ein schwerer Dämpfer: Deutschland darf den EU-Reformvertrag von Lissabon noch nicht ratifizieren. Grundsätzlich billigten Deutschlands höchste Richter die Ausweitung der europäischen Befugnisse. Zum Vertrag von Lissabon sagte Karlsruhe "Ja, aber". Zwar sei der Vertrag trotz erheblich angewachsener EU-Befugnisse „noch“ mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar, entschied das Bundesverfassungsgericht. Aber bevor Bundespräsident Horst Köhler seine Unterschrift unter den Vertrag setzen darf, müssen die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat gestärkt werden, heißt es in dem Urteil (Az: 2 BvE 2/08 u. 5/08, 2 BvR 1010/08, 1022/08, 1259/08 u. 182/09 vom 30. Juni 2009).

Kaut Gericht weist das deutsche Begleitgesetz, das die Parlamentsbeteiligung beim Erlass europäischer Vorschriften regelt, Defizite auf und muss nachgebessert werden. Erst dann dürfe die Ratifikationsurkunde zum Vertrag hinterlegt werden. „Das Grundgesetz sagt Ja zu Lissabon, verlangt aber auf nationaler Ebene eine Stärkung der parlamentarischen Integrationsverantwortung“, sagte Vizepräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte: „Der Vertrag von Lissabon hat eine weitere wichtige Hürde genommen.“ Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat sich zufrieden über das Lissabon-Urteil gezeigt. „Ich freue mich über die Klarheit, die das Bundesverfassungsgericht heute hergestellt hat“, sagte er. Das Abkommen sei voll mit dem Grundgesetz vereinbar. Man müsse nicht neu verhandeln, keine Protokollvereinbarungen hinzufügen oder deutsche Vorbehalte erklären. Steinmeier geht davon aus, dass Deutschland noch in diesem Jahr den Vertrag ratifiziert: „Das wird zeitgerecht geschehen, fristgerecht geschehen.“

Durch das Urteil gerät der Bundestag unter Zeitdruck – der Vertrag soll spätestens Anfang 2010 in Kraft treten. „Der Senat ist zuversichtlich, dass die letzte Hürde vor Hinterlegung der Ratifikationsurkunde schnell genommen wird“, sagte Voßkuhle. Der Bundestag soll dafür nach dem Willen der Großen Koalition im August zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Bei einer weiteren Sitzung am 8. September solle das neue Gesetz zur Stärkung der Mitwirkungsrechte des Parlaments dann verabschiedet werden. SPD-Fraktionschef Peter Struck sagte: „Die Koalitionsfraktionen bieten der Opposition an, noch in dieser Legislaturperiode ein neues Begleitgesetz zu erarbeiten, das den Anforderungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts entspricht.“ Bundespräsident Horst Köhler hatte seine Unterschrift unter den Vertrag mit Rücksicht auf die Karlsruher Entscheidung zurückgestellt.

Das Gericht gab mehreren Verfassungsbeschwerden teilweise statt. Geklagt hatten eine Gruppe um den Ex-Europaparlamentarier Franz Ludwig Graf von Stauffenberg (CSU) sowie der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler, die Linksfraktion im Bundestag und Klaus Buchner, Vorsitzender der Ökologisch-Demokratischen Partei.

Mit dem Urteil verlangt das Gericht eine deutliche Stärkung des Demokratieprinzips. An mehreren Stellen des Vertrags, die eine schleichende Ausweitung der EU-Zuständigkeiten ermöglichen, schreibt Karlsruhe eine zwingende Beteiligung von Bundestag und Bundesrat vor. Das gilt etwa für die sogenannte Brückenklausel, nach der für Beschlüsse des Europäischen Rates statt der Einstimmigkeit ein Mehrheitsprinzip eingeführt werden kann. Dem Urteil zufolge dürfte die Bundesregierung einer solchen Änderung nur auf der Grundlage eines Gesetzes zustimmen.

Die erweiterten Zuständigkeiten des EU-Parlaments können laut Gericht das Demokratiedefizit zwar verringern, aber nicht beheben. Es sei nicht „gleichheitsgerecht“ gewählt und nicht mit den notwendigen Kompetenzen ausgestattet, um repräsentative „einheitliche politische Leitentscheidungen“ zu treffen.

Der europäische Einigungsprozess darf nach den Worten des Zweiten Senats nicht „zur Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystem in Deutschland führen.“ Den Mitgliedsstaaten müsse ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben. Als „besonders sensibel“ erachtet das Gericht beispielsweise das Strafrecht, Polizei und Militär, Steuern und Sozialausgaben sowie Familienrecht und Religion.

Außerdem behalten sich die Verfassungsrichter eine weit reichende Kontrolle vor. Laut Urteil darf das Gericht prüfen, ob sich die EU beim Erlass von Regelungen im Rahmen ihrer Zuständigkeit bewegt, falls beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg kein Rechtsschutz zu erlangen ist. Außerdem pocht Karlsruhe auf eine Kontrolle der „Verfassungsidentität“: Das Gericht prüfte, ob europäische Rechtsakte mit dem „unantastbaren Kerngehalt“ des Grundgesetzes wie etwa dem Schutz der Menschenwürde und dem Demokratieprinzip vereinbar sind.

Nach den Worten des Gerichts ist der Umfang politischer Gestaltungsmacht der Europäischen Union zwar „stetig und erheblich“ gewachsen. Allerdings sei die EU auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon „noch“ kein staatliches Gebilde. „Sie ist kein Bundesstaat, sondern bleibt ein Verbund souveräner Staaten.“ Mit dem im Dezember 2007 unterzeichneten Vertragswerk soll die auf 27 Mitglieder angewachsene EU handlungsfähiger gemacht werden.