Trotz Gutachtens findet die schwarz-gelbe Regierung keine einheitliche Linie in der Energiepolitik. Kernkraft-Debatte geht weiter.

Berlin. Es hätte das Startsignal für eine gemeinsame Energiepolitik der schwarz-gelben Regierungskoalition werden können: Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) und Wirtschaftsminister Rainer Brüderle haben gestern in Berlin ein wissenschaftliches Gutachten zur Zukunft der deutschen Atomenergie vorgestellt. Auf Basis dieser Studie will die Regierung bis Ende September ihr Energiekonzept entwickeln.

Doch auch die Untersuchung brachte keine Ruhe in die Debatte um die Kernkraft : Röttgen und Brüderle bewerten die Ergebnisse der Analyse völlig unterschiedlich. Brüderle sagte, der größte volkswirtschaftliche Nutzen ergebe sich aus Laufzeitverlängerungen zwischen zwölf und 20 Jahren. Bis 2030 könnte es so beim Strompreis zu Einsparungen von acht Milliarden Euro kommen. Röttgen hingegen betonte, längere Laufzeiten hätten nur eine "marginale, aber keine entscheidende Bedeutung". Die Folgen für den Klimaschutz und den Strompreis seien gering.

In dem Gutachten der Institute EWI, Prognos und GWS werden die Auswirkungen einer Laufzeitverlängerung um vier, zwölf, 20 oder 28 Jahre untersucht und mit einer Energiepolitik ohne Laufzeitverlängerung verglichen. Die Gutachter kommen zu dem Schluss, dass durch eine Verlängerung in allen Szenarien die angestrebte Reduzierung von Treibhausgasen um mindestens 80 Prozent bis 2050 gegenüber 1990 erreicht werden kann. Außerdem führten sie zu Wirtschaftswachstum und dämpfen mittelfristig die Strompreise. Voraussetzung sei aber eine Sicherheitsnachrüstung der Meiler, ein Ausbau der Stromnetze und eine verstärkte Gebäudesanierung.

Mit seiner Ablehnung noch längerer Laufzeiten stieß Röttgen innerhalb seiner eigenen Fraktion auf Widerstand. Der wirtschaftspolitische CDU-Fraktionssprecher Joachim Pfeiffer sagte dem Hamburger Abendblatt, die Gutachter sähen den größten Nutzen bei einer um zwölf bis 20 Jahre verlängerten Laufzeit. "Da ist es doch sachlich geboten, die 20 Jahre auch umzusetzen." Pfeiffer widersprach der Kritik, dass eine Laufzeitverlängerung aufgrund fehlender Mehrheiten im Bundesrat scheitern könnte: "Die christlich-liberale Koalition arbeitet an einer Lösung, die der Zustimmung des Bundesrates nicht bedarf." So sieht es auch Thomas Bareiß, der energiepolitische Sprecher der Unions-Fraktion: "Nachdem ich das Gutachten kenne, bin ich der Auffassung eher länger als kürzer - eher 20 als zehn Jahre." Sonst drohten die Abhängigkeit von Stromimporten und steigende Strompreise.

Nach Ansicht des umweltpolitischen Fraktionssprechers der FDP, Michael Kauch, ist die Atomdebatte noch nicht beendet. "In den Fraktionen muss nun geklärt werden, um wie viel Jahre die Laufzeiten verlängert und wie die Gewinne abgeschöpft werden sollen", sagte Kauch. Die Debatte sei komplex, weil die Meinungsverschiedenheiten nicht zwischen den Parteien verliefen, sondern innerhalb der Fraktionen. "Da würde auch ein Machtwort der Kanzlerin nicht funktionieren."

Die Kritiker einer Laufzeitverlängerung griffen das Gutachten an. André Böhling von Greenpeace sagte dem Abendblatt: "Der Vorwurf von Täuschung und Manipulation bei der Berechnung der Energieszenarien bestätigt sich nach der Auswertung des Endberichtes." Böhling kritisierte unter anderem, es sei unverständlich, warum die Gutachter beispielsweise für den Zeitraum von 2030 bis 2040 ein Wachstum der grünen Energien von gerade mal 2,8 Prozentpunkten prognostiziert hätten. "Eine solche Annahme ist absurd und widerspricht dem Fakt, dass die Technologien jedes Jahr wettbewerbsfähiger werden", sagte Böhling.

Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sprach von einem Gefälligkeitsgutachten für die Stromkonzerne. SPD-Chef Sigmar Gabriel warf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, ihr sei mehr Geld für den Haushalt wichtiger als ein zukunftsfähiges Energiekonzept. Es laufe auf einen ziemlich schmutzigen Ablasshandel hinaus. Ein Regierungssprecher sagte, Merkel habe sich nicht auf zehn bis 15 Jahre festgelegt. Sie hatte am Sonntag gesagt, das Gutachten halte diesen Zeitraum zwar für fachlich vernünftig. Sie müsse aber auch Sicherheitsaspekte und die rechtlich sichere Umsetzung des Beschlusses beachten.