Nach dem scharfem Disput mit der Vertriebenenpräsidentin schaut der Außenminister beim Festakt “60 Jahre Charta der Vertriebenen“ vorbei.

Stuttgart. Vollblut-Verantwortungsträger verabschieden sich nicht mit ein paar lauen Restarbeitstagen in die Sommerferien, an denen sie nur noch den Schreibtisch aufräumen. Da wird gewirbelt und gedient bis zur allerletzten Minute: Am Sonnabend die Loveparade-Trauerfeier in Duisburg, dann gleich weiter zur Eröffnungsfeier der schwul-lesbischen Gay Games nach Köln. Am Mittwoch als Vizekanzler 18 Minuten Leitung der Kabinettssitzung, im Anschluss Auftritt vor der Bundespressekonferenz. Gestern ganz früh mit Blick auf Hiroshima die Mahnung an die Welt, nuklear abzurüsten, abends spät noch ein Besuch bei Österreichs Außenminister Michael Spindelegger, mit dem man über die Kosovofrage sprechen wollte.

Und weil auf der Reise Richtung Österreich immer noch Luft war, schaute Guido Westerwelle (FDP) gestern Nachmittag noch schnell in Stuttgart beim Festakt des Bundes der Vertriebenen (BdV) vorbei. Der BdV hatte in den prächtigen Weißen Saal im Neuen Schloss eingeladen. Vor der Ruine des Schlosses war vor 60 Jahren die Charta der deutschen Heimatvertriebenen proklamiert worden, 150.000 Menschen sollen damals angereist sein und gejubelt haben.

Für den Vertriebenenbund war die Last-Minute-Anmeldung des Außenministers eine Riesenüberraschung. Der Vize-Kanzler hatte zwar wie viele Politiker und quasi aus Gewohnheit auf der Einladungsliste gestanden. Doch mit seinem Kommen hatte niemand gerechnet. Das nicht nur, weil das Charta-Thema ins Ressort des Innenministerkollegen Thomas de Maizière (CDU) fällt. Vor allem aber sind Westerwelle und BdV-Präsidentin Erika Steinbach wahrlich nicht eben das, was man gute Freunde nennen würde.

Schließlich war es der Außenminister , der jüngst Steinbachs Einzug in den Stiftungsrat des "Zentrums gegen Vertreibungen" blockiert hatte - im Namen der Versöhnung mit Polen, wo die Vertriebenenpräsidentin als Revanchistin gilt. Die 65-jährige CDU-Abgeordnete wiederum revanchierte sich an Westerwelle, indem sie für ihren Verzicht auf das Mandat ein paar zusätzliche BdV-Ratsposten für die geplante Vertriebenen-Gedenkstätte in Berlin aushandelte. Seither hatten Steinbach und Westerwelle sich nicht allzu viel zu sagen.

"Sehr kurzfristig und spontan" habe sich der Außenminister jetzt aber angemeldet, sehr zur Freude des BdV, sagte Steinbach. Erst kurz vor der Sommerpause Mitte Juli fiel die Entscheidung zu kommen, auf jeden Fall zu spät: Als sich der Vizekanzler zum Stuttgart-Abstecher entschloss, war die Rednerliste bereits geschlossen. Und so saß Westerwelle gestern eben sprachlos mit im Saal und hörte zu, was Steinbach, de Maizière und Bundestagspräsident Norbert Lammert zum Thema Heimatvertriebenen-Charta zu sagen hatten. Das führte indes zu einer skurrilen Fügung: Der Innenminister überbrachte den Anwesenden pflichtbewusst "die herzlichsten Grüße von Bundeskanzlerin und Außenminister" - und damit von jemandem, der direkt vor ihm saß.

Steinbachs Genugtuung über den Überraschungsbesuch konnte all das indes nicht trüben. Nicht nur, dass die Präsidentin ihrem Ehrengast strahlend sogar vor die Schlosstür entgegeneilte und Westerwelle beim gemeinsamen Pressefoto demonstrativ-vertraulich am Arm tätschelte. Zuvor hatte sie eine halbe Stunde lang im Foyer ausgeharrt und auf ihren Gast gewartet. Der FDP-Chef gab sich ähnlich aufgeräumt, winkte bei seiner Ankunft in die Menge und sprach Steinbach Anerkennung für den guten Besuch der Veranstaltung aus. Beim Festakt durfte Westerwelle genau in der Mitte der ersten Reihe sitzen, zwischen ihr und de Maizière.

Auch als in den Reihen der 450 Festgäste Grummeln, leise Buhrufe und ein paar Pfiffe laut wurden, sobald Steinbach Westerwelle als Ehrengast begrüßte, griff die resolute Politikerin strikt durch. "Nein, nicht", brachte sie kritische Stimmen sofort zum Verstummen. "Ich weiß sehr zu schätzen, dass Sie extra umdisponiert haben, um hier zu sein. Es ist ein gutes Signal der Verbundenheit und der Wertschätzung, dass Sie da sind." Es freue sie, dass Westerwelle das Miteinander suche, sagte Steinbach.

Mit ihrer Charta hätten die Heimatvertriebenen "ein historisches Dokument von hohem Wert" geschaffen. "Durch sie haben Sie, die Vertriebenen, haben wir ein moralisches Fundament über den Tag hinaus geschaffen", sagte Steinbach in ihrer Rede. Gerade weil Millionen Vertriebene fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch in Hunger und Elend gelebt hätten, könne "die eindeutige Absage an Revanche und Gewalt" nicht hoch genug eingestuft werden.