Streit um Vertriebenen-Charta verstellt Blick für große Leistung.

Historische Dokumente sind angreifbar. Meist wegen ihres Inhalts, oft aber auch wegen der Dinge, die sie nicht enthalten. Die Charta der Vertriebenen macht da keine Ausnahme. Es fehlt der Hinweis auf die deutsche Schuld am Krieg und das Leid, das das Nazi-Reich über unsere Nachbarn und die halbe Welt gebracht hat.

Die Charta war allerdings auch nicht als Dokument der allumfassenden Geschichtsbetrachtung konzipiert, sondern vor allem als Papier, das auf das Schicksal und die Lage von 15 Millionen Menschen aufmerksam machen wollte, die Heimat und Besitz verloren hatten, die im zerstörten Deutschland alles andere als willkommen waren und für die es schwer war, für ihre Belange überhaupt Gehör zu finden. Ja, in ihren Reihen gab es NS-Belastete und Revanchisten - wie in vielen anderen Parteien und Organisationen jener Zeit. Gewiss war auch viel Selbstmitleid im Spiel, was aber auch nicht verwunderlich ist, wenn Mitleid von anderen fehlt.

Ein Streit über wahre Ziele und Absichten von Organisationen jenseits ihrer offiziellen Dokumente und Bekundungen ist immer lohnend. Nur darf über die Exegese der Charta, der Analyse dessen, was nicht in ihr steht, und über dem Streit um die Besetzung des Stiftungsrates der geplanten Vertriebenen-Ausstellung nicht vergessen werden, dass es im Nachkriegsdeutschland gelungen ist, jenen 15 Millionen Entwurzelten wieder ein Zuhause und die Möglichkeit, neue Existenzen aufzubauen, zu geben. Die Mehrheit dieser Menschen sind keine revanchistischen Funktionäre, sie und ihre Kinder sind in die Gesellschaft längst vollständig integriert, an den Nachkriegsgrenzen rüttelt niemand.

Das klingt selbstverständlich. Ein Blick über unsere Grenzen und in die jüngste - leider auch europäische - Geschichte zeigt allerdings, dass es das leider gar nicht ist. Meist folgt auf Vertreibung noch immer Gegenvertreibung, auf altes Unrecht neues, werden Entwurzelte bewusst unter miserablen Bedingungen in Lagern untergebracht, um potenzielle Kämpfer gegen missliebige Nachbarn parat zu haben.

Selten ist die Integration einer so großen Zahl von Flüchtlingen besser gelungen als in der jungen Bundesrepublik. Das ging nur mit ihnen - und ihrer Charta.