Heitere Auftaktsitzung des Parlaments: Schily scherzte, Merkel lachte, und Struck sprach sogar mit Lafontaine. Eine große Koalition der guten Laune - vorübergehend, denn dann kam es zum Eklat im Bundestag.

Berlin. Bisweilen vermag ein frommes Lied die Stimmung eines ganzen Tages zu prägen - jedenfalls fast. "Er gebe uns ein fröhlich Herz, erfrische Geist und Sinn . . ."

Voller Inbrunst sangen gottesfürchtige Parlamentarier gestern früh vor der Konstituierung des 16. Bundestags dies schöne Kirchenlied. Hernach, im Hohen Hause, schien der Schlußgesang aus dem ökumenischen Gottesdienst in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt nachzuwirken im Zentrum der deutschen Demokratie.

Als die Parlamentarier kurz vor 11 Uhr ins Reichstagsgebäude strömten, ging es dort so heiter, unaufgeregt und fast beschwingt zu wie wahrscheinlich in der gesamten neuen Wahlperiode nicht mehr. Berührungsängste schienen verflogen, Gegnerschaften außer Kraft und neue Allianzen in der Anbahnungsphase. Draußen in der Lobby dachte Wolfgang Börnsen (CDU), neuer Chef der CDU-Landesgruppe Schleswig-Holstein, schon über ein zwangloses Treffen mit SPD-Kollegen nach. Angela Merkel, die designierte Kanzlerin, steuerte im Plenarsaal schnurstracks auf SPD-Chef Franz Müntefering zu, plauderte mit dem obersten Genossen so angeregt, als seien sie seit Jahren Freunde. Große Koalition wird eingeübt.

Von Müntefering schwenkte Merkel zu den Grünen, begrüßte erst deren Parteichefin Claudia Roth sehr herzlich und plauderte sich kurz fest. Nicht mal Oskar Lafontaine, nur sitzmäßig im Plenarsaal nun wieder Seit' an Seit' mit der SPD, mußte sich als Verfemter vorkommen. Mal plauderte er mit dem saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, mal mit Guido Westerwelle, dann sogar kurz mit Peter Struck, dem künftigen Chef der SPD-Fraktion. Nur für seinen Erzfeind Gerhard Schröder war Lafontaine Luft. Der Kanzler begrüßte lieber seinen Außenminister Joschka Fischer. Dazu mußte er in die hintere Reihe der Grünen, mimt Fischer doch nun demonstrativ den Hinterbänkler.

Die Klingel des Hohes Hauses trieb schließlich alle auf ihre Plätze, nahte doch nun gebieterisch Bundesinnenminister Otto Schily in seiner Funktion als Alterspräsident des Parlaments. Der 73jährige, dessen schneidender Ton jeden Gesprächspartner einzuschüchtern und in Habacht-Stellung zu bringen vermag, gab sich gestern heiter. Er attestierte sich ungewohnt selbstironisch gar eine "ungewohnte Herzlichkeit", als er in den Reihen der FDP ein "Nachwuchstalent" begrüßte, das nun "im jugendlichen Alter von 67 Jahren eine hoffnungsvolle politische Karriere" beginne - sein Bruder Konrad. Da war die Heiterkeit groß. Und groß war der Beifall, als Schily zum ernsten Teil seiner Rede kam und allen Politikern ins Stammbuch schrieb: "Wir sollten endlich aufhören, das eigene Land wider besseres Wissen schlecht zu reden, nur um politische Geländegewinne zu erzielen."

Auf der Zuschauertribüne verfolgte Bundespräsident Horst Köhler das Geschehen. Dort saß auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement - und arbeitete so emsig Akten ab, als wolle er noch viele Jahre regieren. Dabei sollte er - wie das gesamte Kabinett Schröder - nur Stunden später seine Entlassungsurkunde bekommen. Für Clement ist Schluß mit der Bundespolitik.

Richtig los geht es dagegen für Norbert Lammert, der unten im Plenarsaal einen außergewöhnlichen Erfolg feiern konnte. Der Bochumer wurde mit einem grandiosen Ergebnis, 93,1 Prozent der Stimmen, zum neuen Bundestagspräsidenten gewählt. Ein besseres Ergebnis hatte mit 93,2 Prozent nur Hermann Ehlers im Jahr 1953. "Überwältigt, geradezu erschüttert" zeigte sich der CDU-Politiker, der nun zweiter Mann im Staat ist.

Und Lammert überzeugte gleich mit einer glänzenden Rede, in der er das Parlament zu Selbstbewußtsein gegenüber der Regierung aufforderte. "Hier schlägt das Herz der Demokratie - oder es schlägt nicht!" sagte Lammert und stellte klar: "Der Bundestag ist nicht Vollzugsorgan der Bundesregierung, sondern umgekehrt sein Auftraggeber." Solche Töne haben die Abgeordneten lange nicht mehr von einem Parlamentspräsidenten gehört, jedenfalls nicht von Lammerts Vorgänger Wolfgang Thierse (SPD). Thierse, dem die Union häufig Parteilichkeit vorgeworfen hatte, wurde hinterher mit sehr mäßigem Ergebnis zum Vizepräsidenten gewählt. Um die Anzahl der Vizepräsidenten gab es gleich das erste Scharmützel. Jeder Fraktion steht laut Geschäftsordnung ein Vizepräsident zu, der größten Fraktion der Präsident. Nun beschlossen SPD und Union in großkoalitionärer Eintracht gegen den Willen der kleinen Fraktionen, den Sozialdemokraten einen zusätzlichen Vizepräsidenten zu genehmigen.

Die personelle Aufblähung rechtfertigte zunächst CDU-Fraktionsgeschäftsführer Norbert Röttgen. Ihm sprang für die SPD Fraktionsmanager Olaf Scholz zur Seite mit einer Formulierung, die, wie der Hamburger sagte, man künftig noch öfter hören werde: "Ich stimme den Ausführungen des Kollegen von der CDU/CSU voll inhaltlich zu." Da gab es noch kurz Heiterkeit.

Die verflog, als Lothar Bisky von der Linkspartei zur Vizepräsidenten-Wahl anstand. Der Mann fiel dreimal mit Pauken und Trompeten durch, dann wurde die Wahl vertagt. Die Gesichter der Linken verfinsterten sich. "Er gebe uns ein fröhlich Herz . . ." Es war kurz nach 18 Uhr, das Kirchenlied vom Vormittag vergessen, der Alltag hatte sie wieder.