In Tunesien und Algerien wenden sich verzweifelte Menschen gegen die autoritären Regime. Die aber reagieren mit Brutalität und Versprechungen.

Hamburg/Tunis. Die Pariser Zeitung "Libération" spricht bereits von einem "Nordkorea am Mittelmeer". Die brutale Reaktion des tunesischen Regimes von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali auf die Armutsrevolten in mehreren Städten hat die Staatengemeinschaft entsetzt. Nach Oppositionsangaben sind inzwischen mehr als 70 Menschen ums Leben gekommen, die meisten wurden erschossen, als Sicherheitskräfte in die Menge feuerten. Mehr als 800 Menschen sollen verletzt worden sein. Die Regierung in Tunis räumte lediglich 14 Tote ein.

Die Europäische Union; die USA und die Uno äußerten sich besorgt; das Auswärtige Amt in Berlin riet zu "erhöhter Vorsicht" bei Reisen in die Region. EU-Außenpolitikchefin Catherine Ashton erklärte Richtung Tunis, die fundamentalen Freiheiten und Menschenrechte müssten respektiert und die vielen Inhaftierten, darunter "Blogger, Journalisten, Anwälte und andere Menschen, die friedlich demonstriert haben", müssten freigelassen werden. Die US-Regierung in Washington bestellte den tunesischen Botschafter zu Krisengesprächen ein. Eilig versprach der tunesische Staatschef in einer Fernsehansprache an sein Volk, er werde innerhalb der nächsten zwei Jahre 300.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Gleichzeitig jedoch beschimpfte er die Demonstranten als "Terroristen" und "maskierte Banden" und ließ vorbeugend sämtliche Sekundarschulen und Universitäten schließen, um neue Unruhen möglichst im Keim zu ersticken.

Der nordafrikanische Staat Tunesien mit seinen gut zehn Millionen Einwohnern leidet an zwei schwerwiegenden Mängeln: einer diktatorisch geführten Regierung und einer wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit vor allem bei jungen Menschen. Offiziell beträgt die Arbeitslosigkeit 14 Prozent, doch diese Zahl dürfte tatsächlich - vor allem in ländlichen Gebieten und bei der Jugend - mehrfach höher sein. Viele Menschen finden zudem keine Wohnungen. Auslöser der jüngsten, in ihrer Wucht überraschenden Proteste war der Selbstmord eines arbeitslosen Hochschulabsolventen kurz vor Weihnachten. Der 26-jährige Mohammed Bouazizi übergoss sich in der Stadt Sidi Bouzid mit Benzin und verbrannte sich selbst, nachdem die Polizei mehrfach Früchte und Gemüse beschlagnahmt hatte, die der Verzweifelte ohne Gewerbeschein hatte verkaufen wollen. Tage später starb er qualvoll. In Tunis, Kasserine, Regueb und anderen Städten gingen aufgebrachte Menschen auf die Straßen. Mehrfach kam es seitdem zu neuen Selbstverbrennungen. In Regueb sollen gestern rund 2000 Menschen von der Polizei eingekesselt gewesen sein. In Sidi Bouzid, wo Bouazizi gestorben war, erlag eine junge Frau einer in ihren Rücken gefeuerten Polizeikugel.

Seit seinem unblutigen Coup von 1987 regiert Machthaber Zine al-Abidine Ben Ali mit Unterdrückung und Zensur; es gibt politische Gefangene. Die enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten und die Arbeitslosigkeit sorgen für Wut im Volk. Früher suchten sich junge Menschen Arbeit in Europa und schickten Geld nach Hause zu ihren Familien, doch seitdem Europa mit der Wirtschaftskrise kämpft, ist dieser Ausweg immer schwieriger geworden.

Während in Tunesien zumeist Studenten und arbeitslose Akademiker, aber auch Anwälte und Lehrer im Zentrum des Protestes stehen, sind es in Algerien, dem direkten Nachbarn unter den nordafrikanischen Maghreb-Staaten, eher arbeitslose Jugendliche aus den Unterschichten. Die Straßenproteste der vergangenen Tage in Algerien, bei denen ebenfalls mehrere Menschen ums Leben kamen und fast 500 verletzt wurden, haben sich etwas abgeschwächt, nachdem die Regierung des autokratisch herrschenden Präsidenten Abdelaziz Bouteflika Preissenkungen für Grundnahrungsmittel wie Speiseöl und Zucker angekündigt hat.

Deren Anhebung um bis zu 30 Prozent hatte die Demonstrationen in mehreren Städten ausgelöst. Mehr noch als Tunesien besitzt Algerien wertvolle Rohstoffe und verfügt allein über 155 Milliarden Dollar an Öldevisen. Doch von dem Reichtum kommt wenig beim einfachen Volk an - es kommt vor allem der regimetreuen Elite zugute. In beiden Maghreb-Staaten reißt die Gesellschaft auseinander. Vielen Mittel- und Perspektivlosen stehen wenige gegenüber, die ausgezeichnete Geschäfte machen. Fast ein Viertel der Algerier unter 30 Jahren - sie machen 75 Prozent der Bevölkerung von 34 Millionen aus - sind arbeitslos.