Der Kopf der größten islamistischen Partei Tunesiens kehrt ins Land zurück. Unterdessen geht der Kampf auf der Straße weiter.

Paris/Tunis. Der tunesische Staatschefs Zine El Abidine Ben Ali geht und nun stellen frühere Mitspieler im Machtpoker Tunesiens wieder Machtansprüche. Kurz nachdem Foued Mbazaa vereidigt wurde, kündigte der Chef der größten islamistischen Partei Tunesiens seine Rückkehr aus dem Londoner Exil an. Rached Ghannouchi von der verbotenen Partei Ennahdha sagte der Nachrichtenagentur AFP am Sonnabend, die Diktatur müsse durch eine Demokratie ersetzet werden, er sei dazu bereit. „Ich bereite meine Rückkehr vor“, sagte der 69-Jährige weiter, ohne jedoch einen konkreten Termin zu nennen.

Er sei bereit, sich an einer von Übergangspräsident Foued Mbazaa vorgeschlagenen Regierung der nationalen Einheit zu beteiligen und stehe bereits in Kontakt mit anderen Oppositionsführern, sagte Ghannouchi. Er betonte, seine Partei stelle keine „militante Bedrohung“ dar, sie sei von ihrer Ausrichtung eher mit der türkischen Regierungspartei AKP zu vergleichen.

Die französische Regierung hat unterdessen zu verstehen gegeben, dass sie Angehörigen des nach Saudi-Arabien geflüchteten tunesischen Präsidenten keine Zuflucht gewähren werde. Zuvor war bekannt geworden, dass sich Familienmitglieder des Präsidenten, darunter seine 24-jährige Tochter Nesrinen und mindestens ein Enkel, seit Donnerstag im Hotel des Vergnügungsparks Disneyland Paris aufhielten. Diese hätten keinen Grund zu bleiben, sagte Regierungssprecher Francois Baroin am Samstag. „Diese Familie hat keinen Wunsch geäußert, auf französischem Boden zu bleiben und wird ihn wieder verlassen“, versicherte der Sprecher weiter. Laut einem Vertreter des Hotels hat die Gruppe den Vergnügungspark am Nachmittag verlassen; niemand wisse, wo sie jetzt sei.

Mbazaa vereidigt - Interimsregierung verspricht Demokratie

Nach der Flucht von Präsident Ben Ali ins saudische Exil hatte zunächst Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi am Freitag die Amtsgeschäfte übernommen. Am Sonnabend ernannte der Verfassungsrat dann Foued Mbazaa zum Übergangs-Präsidenten, der nach Angaben des Staatsfernsehens bereits wenig später vereidigt wurde. Der 77-jährige soll Neuwahlen vorbereiten. Gewählt werden soll bereits in zwei Monaten, wie der Präsident des Verfassungsgerichts mitteilte. Mbazza hat Ghannouchi zur Bildung einer neuen Einheitsregierung aufgefordert. „Alle Tunesier müssen ausnahmslos in den politischen Prozess eingebunden werden“, sagte Mebazaa am Samstag nach seiner Vereidigung. Er versprach, für Pluralismus und Demokratie einzutreten und die Verfassung anzuerkennen.

Ben Ali hatte vor seiner Flucht den Ausnahmezustand verhängt und die Macht Ministerpräsident Ghannouchi als Interims-Präsidenten übertragen. Laut Verfassung ist das jedoch nur für eine begrenzte Zeit möglich. Sie sieht vor, dass der Vorsitzende des Parlaments das Amt des Präsidenten treten soll. Oppositionspolitiker hatten bereits kritisiert, dass die Ernennung Ghannouchis als Interim-Präsident verfassungsrechtlich bedenklich sei.

Angriff auf tunesisches Innenministerium

Soldaten und Polizisten haben sich am Sonnabend vor dem tunesischen Innenministerium in Tunis ein Feuergefecht mit Angreifern geliefert. Zu den Zusammenstößen kam es kurz nach der Vereidigung des Übergangspräsidenten. Journalisten der Nachrichtenagentur AP beobachteten, wie zwei Menschen nach dem Schusswechsel am Boden lagen. Ob sie tot oder verletzt waren, blieb zunächst unklar. Auf den Dächern des Innenministeriums wurden Scharfschützen gesehen.

+++ Häftlinge stecken Matratzen in Brand - Bis zu 50 Tote +++

Aus der Hauptstadt Tunis wurde in der Nacht zum Sonnabend von chaotischen Szenen berichtet. Gebäude brannten, es kam zu Plünderungen. Auch ein Krankenhaus soll angegriffen worden sein. Helikopter kreisten über der Stadt. Reiseveranstalter flogen deutsche Urlauber in die Heimat aus. Unterdessen traf Ben Ali in Saudi-Arabien ein.

Nach Angaben von Augenzeugen brannte in der Nacht der Zentralbahnhof der Hauptstadt, auch in mehreren Supermärkten und Wohngebäuden sei Feuer gelegt worden. Unruhen wurden auch aus anderen Landesteilen gemeldet. Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi sprach im tunesischen Staatsfernsehen von einem völligen Sicherheits-Chaos. Er riet den Bewohnern von Tunis, sich in Gruppen zusammenzuschließen, um ihre Habe zu schützen. In einem Interview kündigte er an, die Armee verstärkt zur Sicherung der Wohnviertel einzusetzen.

Ben Ali hatte vor dem Abflug ins Exil die Regierung abgesetzt und den Ausnahmezustand verhängt. Die Proteste, die sich ursprünglich gegen die hohe Arbeitslosigkeit gerichtet hatten, hatten sich immer mehr zu offenen Aufstand gegen sein Regime entwickelt.

Bis zu Neuwahlen wird Ghannouchi das Amt des Interims-Präsidenten ausüben. Er werde sich am Sonnabend mit den Führern der politischen Parteien treffen, um über das weiter Vorgehen zu beraten, sagte er in einem Interview am Freitagabend. „Morgen wird ein entscheidender Tag“, kündigte Ghannouchi an. Zwei Oppositionsführer hätten bereits Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert. Eine Rückkehr Ben Alis nach Tunesien bezeichnete er als „unmöglich“.

Die Maschine des geflohenen Präsidenten landete nach arabischen Medienberichten am frühen Sonnabend in Dschiddah am Roten Meer. Man habe Ben Ali und seine Familie im Königreich willkommen geheißen, meldete die saudische Nachrichtenagentur. Die Regierung Saudi- Arabiens wünsche Tunesien „Sicherheit und Stabilität“ und „stehe an der Seite des tunesischen Volkes“, hieß es. Ben Ali hatte nach französischen Medienberichten zuvor versucht, in Paris zu landen. Die französische Regierung habe ihn aber nicht einreisen lassen wollen, berichtete die Zeitung „Le Monde“.

Reiseveranstalter flogen am Freitagabend deutsche Tunesien-Urlauber in die Heimat aus. Erste Maschinen mit Touristen trafen in Düsseldorf und Berlin ein. Wegen des Ausnahmezustands und der Sperrung des tunesischen Luftraums war es zu Flugausfällen gekommen, die die vorzeitige Heimkehr zahlreicher Touristen verzögerte. Reiseveranstalter schätzen, dass mit deutschen Anbietern etwa 7000 Touristen nach Tunesien geflogen sind. In den Urlauber-Hotels blieb es zunächst ruhig.

Das Auswärtige Amt in Berlin riet von nicht unbedingt erforderlichen Reisen nach Tunesien ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich besorgt über die Lage und mahnte eine friedliche Beilegung der sozialen Unruhen an. Die EU-Kommission dringt ebenfalls auf einen friedlichen Wandel in dem Mittelmeerland. „Wir mahnen alle Parteien, Zurückhaltung zu zeigen und Ruhe zu bewahren, um weitere Opfer und Gewalt zu vermeiden“, erklärte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Freitagabend in Brüssel. Der Schlüssel für die weitere Entwicklung sei der Dialog.

Auch die USA riefen alle Seiten zur Zurückhaltung auf. Die tunesische Regierung müsse „in diesem Moment des bedeutenden Wandels“ das Recht ihres Volkes respektieren, sich friedlich zu versammeln und seine Ansichten zu äußern, erklärte US-Außenministerin Hillary Clinton. Die Vereinigten Staaten verfolgten die rapiden Entwicklungen ganz genau, so die Außenministerin. Sie rief zu freien und fairen Wahlen in naher Zukunft sowie zu Reformen auf.

(dapd/rtr/dpa)

Lesen Sie auch den Abendblatt-Bericht :

Dramatische Stunden in Tunesien: Nach blutigen Massenprotesten ist Präsident Zine al-Abidine Ben Ali am Freitagabend zurückgetreten und hat das Land verlassen. Mit seiner Familie war er auf dem Weg nach Paris. Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi erklärte, er übernehme vorübergehend die Amtsgeschäfte.

Kurz vor seinem Rücktritt hatte Ben Ali noch den Ausnahmezustand verhängt. Auf Demonstranten werde geschossen, hieß es. Der Luftraum wurde gesperrt. Auf dem internationalen Flughafen von Tunis fuhren Panzer auf. Auch die Touristen-Airports Monastir und Djerba wurden zeitweise geschlossen. Jets, die im Anflug waren, mussten umkehren. Nur wenige Flüge, darunter eine Air-Berlin-Maschine mit Ziel Düsseldorf, konnten Djerba verlassen.

Tausende Urlauber sitzen jetzt fest. Für das Wochenende sagten die deutschen Reiseveranstalter alle Flüge nach Tunesien ab. Allerdings versuchen mehrere Gesellschaften, mit leeren Maschinen das Land anzufliegen, um Gäste abzuholen. Bereits am späten Freitagabend landeten die ersten Maschinen mit Rückkehrern in Düsseldorf und Berlin. Das Auswärtige Amt riet den bis zu 8000 deutschen Urlaubern, in den Hotels zu bleiben. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einer "ausgesprochen ernsthaften" Situation.