Antakya. Viele Kinder sterben bei dem Beben. Für Überlebende beginnt eine Kindheit mit Trauma einer Katastrophe. Gerade in Syrien fehlt Hilfe.

Was Nazli noch von ihrer zwei Jahre alten Enkeltochter bleibt, hat sie bei sich, in der Jackentasche. Sie holt die Söckchen raus, rosa, schwarz und weiß gestreift. Mit den Händen umschließt sie die Socken, drückt sie an ihr Gesicht, an Mund und Nase, als wolle sie das kleine Kind selbst noch einmal spüren. Dann muss sie wieder weinen. Ein Nachbar drückt ihr eine Tablette in die Hand. Zur Beruhigung.

Hinter Nazli, 55 Jahre alt, liegt das Grundstück, auf dem nun kein Haus mehr steht. Sondern ein riesiger Haufen aus Schutt und Stahl hier in der Stadt Antakya im Süden der Türkei. Irgendwo dort liegt der Körper ihrer Enkeltochter. Kaum jemand glaubt mehr daran, dass sie noch lebt. Auf der Straße neben Nazli liegen Leichen in Säcken, die sie schon aus den Trümmern geborgen haben. Nazlis Enkeltochter hieß wie sie: Nazli.

Nazli verliert ihre Enkeltochter in den Trümmern. Viel ist ihr nicht geblieben, in der Hand hält sie eine Socke des kleinen Mädchens, presst es an ihren Mund und ihre Nase – als wolle sie ihre Enkeltochter noch einmal spüren.
Nazli verliert ihre Enkeltochter in den Trümmern. Viel ist ihr nicht geblieben, in der Hand hält sie eine Socke des kleinen Mädchens, presst es an ihren Mund und ihre Nase – als wolle sie ihre Enkeltochter noch einmal spüren. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Mehr als 40.000 Tote zählt die Statistik gut eine Woche nach dem Beben. Die Vereinten Nationen schätzen, dass allein in Syrien mehr als zwei Millionen Kinder von dem Erdbeben betroffen sind, tote und überlebende. In der Türkei sogar mehr als vier Millionen.

Viele Kinder leben nun in Zelten in der Region. Mehr als 1000 Kinder haben die Behörden registriert, die keinen Eltern zugeordnet werden können.
Viele Kinder leben nun in Zelten in der Region. Mehr als 1000 Kinder haben die Behörden registriert, die keinen Eltern zugeordnet werden können. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Und auch die Kinder, die überlebt haben, verlieren ihr Zuhause. In Antakya, einer Stadt an der Grenze der Türkei zu Syrien, wuseln Kinder um Zelte in einem Park. Es ist eines der improvisierten Lager für die vielen obdachlosen Familien. Manche der Kinder hocken auf dem Schoß ihrer Eltern, andere spielen auf dem Boden, ein Mädchen sitzt auf einer Parkbank und malt mit Buntstiften in einem Heftchen.

Gefunden im Schutt: Kuscheltiere, Kinderschuhe, Schulbücher, Spielzeugfiguren

Neben die Ruinen reihen Retter und Helfer oft Sachen auf dem Boden nebeneinander, die sie in den Trümmern finden. Immer wieder sind da auch: Kuscheltiere, Kinderschuhe, Schulbücher, Spielzeugfiguren aus Plastik.

Manche der Familien haben Zelte aufgebaut, aus Holzlatten und Plastikplanen. Manche der Zelte stehen direkt vor dem alten Zuhause. Zurückkehren können die Menschen nicht.
Manche der Familien haben Zelte aufgebaut, aus Holzlatten und Plastikplanen. Manche der Zelte stehen direkt vor dem alten Zuhause. Zurückkehren können die Menschen nicht. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

An Alltag ist nicht zu denken. Schulen sind zerstört oder ohne Strom. Ärzte versorgen gebrochene Knochen, Quetschungen oder dehydrierte Körper. In den Kliniken berichten Ärzte von Babys, die wenige Wochen alt sind und aus den Trümmern gerettet wurden – aber von den Eltern fehlt jede Spur. Rund 1000 Kinder kann das türkische Familienministerium laut Medienberichten vor Ort niemandem zuordnen.

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Um das, was diese Katastrophe in den Köpfen der Kinder macht, kann sich noch kein Psychologe kümmern. Es können Hunderttausende sein, die psychische Folgen für viele Jahre mit sich tragen. Eine erste Idee ist, dass nun Trainerinnen und Trainer ausgebildet werden, die als eine Art „Ersthelfer für Trauma-Therapie“ eingesetzt werden sollen.

Einfacher ist der Transport von Gütern speziell für Kinder und Familien. Hilfsorganisationen legen einen Fokus auf die Sendung von Winterkleidung und Schlafsäcke für Kinder, Hygieneartikel für Familien, Babynahrung, Windeln. Vor allem in Syrien ist die Versorgungslage brisant.

Der kleine Yilmaz, gerade sieben Monate alt, hat überlebt. Seine ganze Familie auch. Mutter Fatma trägt den Kleinen auf dem Arm. Die Familie, die Eltern und der Junge, teilt sich mit anderen Überlebenden ein Zelt, das sie von einer Hilfsorganisation bekommen haben. Ihr Zuhause ist jetzt noch so groß wie eine Tischtennis-Platte.

Yilmaz, gerade sieben Monate alt, hat das Beben mit seiner Familie überlebt.
Yilmaz, gerade sieben Monate alt, hat das Beben mit seiner Familie überlebt. © FUNKE Foto Services | Reto Klar