Bizarre Auftritte im Fernsehen, vermutlich weit mehr als 500 Todesopfer bei Kämpfen. Westerwelle droht dem Despoten mit Sanktionen.

Hamburg. "Bitte, bitte - helfen Sie dem libyschen Volk. Helfen Sie den Menschen. Sie verbrennen. Die Welt muss uns unterstützen." Es war ein dramatischer Appell, mit dem sich Ali Aujali, Libyens Botschafter in den USA, in der Sendung "Good Morning America" an die Amerikaner wandte. Das Regime in Tripolis sei erschüttert, sagte Aujali, nun sei die Zeit gekommen, es endlich loszuwerden.

Während Zehntausende Ausländer versuchten, das Land zu verlassen, wendete sich Machthaber Muammar al-Gaddafi gestern in zwei bizarren Fernsehbotschaften an sein Volk. In der ersten saß er in einem alten Auto und hantierte mit einem Regenschirm. Der "Revolutionsführer" beteuerte aus der offenen Wagentür heraus, er habe sich keineswegs nach Venezuela abgesetzt, wie einige Medien berichtet hatten, sondern sei weiterhin in Tripolis. "Glaubt diesen irreführenden Hundesendern nicht", sagte Gaddafi und fügte hinzu: er hätte gern die Nacht bei seinen jugendlichen Anhängern verbracht, wenn es nicht so stark geregnet hätte.

Stunden später wandte sich Gaddafi im Staatsfernsehen noch einmal an sein aufgebrachtes Volk, beschwor krakeelend und gestikulierend die Einheit Libyens und sagte, Libyen werde "Amerika führen, Asien führen". Es könne nicht aufgehalten werden. Er sei kein Präsident, der zurücktreten könne, er werde "als Märtyrer sterben". Immer wieder schüttelte der Despot die Faust, nannte die Oppositionellen "Verräter". Es handle sich um "eine kleine Gruppe von jungen Leuten, denen man Tabletten gegeben hat". Sie attackierten Polizeiwachen "wie die Ratten".

Der abtrünnige libysche Diplomat Abdulmoneim al-Honi, der am Vortag aus Protest gegen das brutale Vorgehen der libyschen Sicherheitskräfte als Botschafter bei der Arabischen Liga zurückgetreten war, sagte der Nachrichtenagentur dpa, Gaddafi habe sich in dem riesigen, sechs Quadratkilometer großen Kasernenkomplex Bab al-Asisiyah in Tripolis verschanzt. Neben dieser Kaserne gebe es nur noch zwei weitere, die zu Gaddafi hielten, darunter die Al-Saad-Kaserne östlich von Sirte, der Geburtsstadt des Diktators.

Bei den Angriffen der Sicherheitskräfte, darunter Söldner aus Schwarzafrika, sollen nach Angaben der Opposition bislang rund 560 Menschen um Leben gekommen sein; 1400 werden noch vermisst. In der Hauptstadt Tripolis lagen zahlreiche Leichen auf den Straßen. Gaddafis Sohn Saif al-Islam, der am Vortag im Fernsehen vor "Strömen von Blut" gewarnt hatte, bestritt Berichte, wonach libysche Kampfflugzeuge die Protestierenden unter Feuer genommen hatten. Diese schwerwiegenden Vorwürfe wurden allerdings von libyschen Diplomaten wie dem zurückgetretenen Botschafter in Indien, Ali al-Essaui, bestätigt.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle drohte dem Regime in Tripolis mit Sanktionen, falls die Gewalt gegen die Opposition anhalte. Gaddafi solle von den Beispielen in Tunis und Kairo lernen: "Wer versucht, Menschen, die für Freiheit, Demokratie und berufliche Chancen auf die Straßen gehen, mit Gewalt niederzuhalten, verspielt die Zukunft seines Landes". Westerwelle sagte im ZDF, eine Herrscherfamilie, die das eigene Volk mit Bürgerkrieg bedrohe, sei "am Ende". Es sei "unsere verdammte Pflicht", sich in Libyen einzumischen. "Wir können ja nicht zusehen, wie Menschen ermordet werden."

Ein Arzt aus Tripolis, der in einem Krankenhaus arbeitet, berichtete der britischen BBC, er habe "viele, viele tote Menschen" gesehen: "Es war ein Massaker." Die Uno-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay sagte, die libysche Führung könne angesichts der systematischen Gewalt gegen Zivilisten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden.

Ungeachtet der Brutalität der Regierung weitet sich der Protest immer mehr aus. Die zweitgrößte Stadt Bengasi soll vollständig unter Kontrolle der Opposition sein, der Flughafen von Bengasi ist nach ägyptischen Angaben nicht mehr benutzbar, da die Pisten bombardiert worden seien.

Auch der Grenzübergang zu Ägypten soll von Oppositionellen kontrolliert werden. Auf der anderen Seite verstärkte Ägypten sein Militär, öffnete aber den Übergang Sallum für kranke und verwundete Libyer. Zehntausende Libyer waren derweil auf der Flucht Richtung Ägypten.

Mehrere Staaten, darunter Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande und Ägypten, entsandten Flugzeuge, um ihre Bürger aus Libyen herauszuholen. Zwei Transall-Maschinen der Bundeswehr und ein Flugzeug der Lufthansa landeten in Tripolis. Die Türkei will ihre rund 25 000 Bürger in Libyen mit Schiffen abholen.

Nach Angaben des stellvertretenden libyschen Uno-Botschafters Ibrahim Dabbschi ist das Ende des Gaddafi-Regimes nur "eine Frage von Tagen".

Besonders bedrohlich für Gaddafi ist, dass sich auch mehrere Stämme, darunter die beiden wichtigsten libyschen Volksgruppen, die Warfalla und die Zuwayya, von ihm losgesagt haben. Der Scheich des Zuwayya-Stammes drohte damit, den Ölhahn zu schließen, falls Gaddafi nicht aufhöre, das Volk anzugreifen, und der Chef des Warfalla-Clans sagte, sein Stamm habe Gaddafi aufgefordert, das Land zu verlassen.

Die Stammeszugehörigkeit ist in Libyen von herausragender Bedeutung. Wie der Experte Diederik Vanderwalle vom Dartmouth College dem US-Sender ABC News sagte, fehle den libyschen Streitkräften - anders als etwa der tunesischen oder ägyptischen Armee - der Zusammenhalt, der es ihnen ermöglichen würde, den Konflikt mit der Opposition zu lösen. Islam-Experte Michael Lüders sagte tagesschau.de, es sehe "nicht gut aus für Gaddafi". Er könne die Armee nicht gegen die Stämme einsetzen; einen Guerillakrieg könne sie nicht gewinnen.