Vier Tage nach dem verheerenden Erdbeben erschütterte ein Nachbeben die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince. Die Zahl der Toten steigt weiter.

Port-au-Prince. Menschen liefen in Panik auf die Straße, als das zweite Beben die Hauptstadt erschütterte. Die US-Erdbebenwarte registrierte ein Beben der Stärke 4,5. Das Epizentrum habe sich in zehn Kilometern Tiefe etwa 25 Kilometer von Port-au-Prince entfernt befunden. Immer noch ist die Lage im schwer getroffenen Haiti chaotisch.

Das Jahrhundertbeben ist für die Vereinten Nationen die schlimmste Katastrophe ihrer Geschichte. „Was vor allem die logistischen Probleme angeht, sind wir noch nie mit einer solchen Lage konfrontiert worden“, sagte Elisabeth Byrs, Sprecherin vom UN-Koordinationsbüro für humanitäre Angelegenheiten (OCHA). „Wir erfahren keinerlei Unterstützung – vor allem nicht von staatlicher Seite“, sagte Byrs. Dies stelle die Hilfsorganisationen vor nie zuvor gekannte Probleme.

Selbst beim Tsunami Ende 2004 in Asien mit mehr als 230.000 Toten habe man wenigstens die logistischen Probleme so nicht gehabt, sagte die Sprecherin. „Wir können auf keine staatliche Infrastruktur zurückgreifen und fangen praktisch bei Null an.“ Laut OCHA sind 26 Such- und Rettungsteams auf Haiti tätig. Noch immer gebe es keine Zahlen über die Zahl der Todesopfer, berichtete die Organisation weiter. Die Identifizierung der Opfer bleibe ein großes Problem.



Beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) spricht man vom „reinsten Chaos“. „Die Zerstörung findet sich an jeder Ecke“, zitiert die Organisation am Samstag IKRK-Sprecher Simon Schorno nach seinen ersten Eindrücken in Port-au-Prince. Die Menschen irrten ohne Aussicht auf Hilfe, Unterkunft oder wie auch immer geartete Betreuung umher. Gleichzeitig verweist er aber auch auf „enorme Solidarität unter Nachbarn und Fremden“. Das Wenige, das noch übrig geblieben sei, werde geteilt, berichtet Schorno.

Aber vor allem das medizinische Personal sei völlig überfordert. Nach IKRK-Angaben gibt es etwa 40 Sammelpunkte für Hilfsbedüftige in der Stadt. Auf der als Kontaktbörse eingerichteten Hilfswebseite des IKRK hätten sich bis Samstag mehr als 19.300 Menschen registriert. Ein Grund für die schleppend angelaufene Hilfe für die verzweifelten Überlebenden war die zerstörte Infrastruktur der Trümmerstadt, vor allem aber die ungenügende Kapazität des Flughafens der zerstörten Hauptstadt. Dort hat mittlerweile US-Militär die Luftkontrolle und Koordinierung der An- und Abflüge übernommen.

Obwohl eine offizielle Opferzahlen immer noch nicht vorliegt, steigen die Schätzungen immer höher. Während die Behörden zunächst von mindestens 50 000 Menschen ausgingen, kursiert in der zerstörten Hauptstadt mittlerweile die Zahl von 140.000 Toten. Allein in einem Massengrab vor den Toren der Stadt seien bereits mehrere zehntausend Menschen beerdigt. Zehntausende Haitianer wurden bei dem Beben mit der Stärke 7,0 zudem verletzt und obdachlos. Weitgehend unbekannt sind zudem die Opferzahlen und Schäden in den Regionen außerhalb der Haupstadt, die ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Die Vereinten Nationen (UN) richteten 15 Zentren für die Auslieferung von Hilfsgütern ein. Blauhelm-Soldaten beaufsichtigten nach Auskunft der Organisation „Aktion Deutschland Hilft“ die Verteilung, um Unruhen unter den Überlebenden zu verhindern. US-Außenministerin erwartet

US-Außenministerin Hillary Clinton will sich selbst ein Bild über die Lage machen. Sie wird am Samstag in Haiti erwartet und will sich unter anderem mit dem Staatspräsidenten Réne Préval treffen. UN- Generalsekretär Ban Ki-Moon kündigte für Sonntag ebenfalls eine Reise ins Katastrophengebiet an. US-Präsident Barack Obama hatte eine massive Hilfsaktion für das Land angekündigt. Am Freitag war der US- Flugzeugträger „Carl Vinson“ eingetroffen, an Bord eine Trinkwasseraufarbeitungsanlage, Hilfsgüter sowie vor allem dringend benötigte Helikopter.

Viele Bewohner der Hauptstadt campieren nach wie vor auf der Straße. Die Menschen sind traumatisiert und warten verzweifelt auf Hilfe. Nach Angaben der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ haben drei Millionen Menschen keinen Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und sanitären Einrichtungen. Auch für die Versorgung der Verletzten fehlt es nach wie vor an allem: Schmerzmittel, Verbandsmaterial, Spritzen Handschuhe, Schutzmasken. Auch Ärzte würden gesucht. Menschen werden ungeduldig

Die Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ meldeten noch keine Probleme wegen möglicher Gewaltausbrüche. „Die Bevölkerung ist aber noch immer sehr unruhig und es gibt viele Gerüchte über ein zweites Erdbeben und einen steigenden Meeresspiegel. Es könnte eine Panik auslösen. Es gibt auch Spannungen, da es nicht ausreichend Wasser und Nahrung gibt“, sagte Laurent Dedieu, Logistik-Manager für die Projekte der Organisation auf Haiti, laut einer Pressemitteilung.

Vier Tage nach dem Beben schwindet die Hoffnung, noch Überlebende zu finden. Ein Mensch kann nur etwa drei Tage ohne Wasser auskommen. Inmitten der apokalyptischen Szenen gibt es aber auch Lichtblicke: Britische Rettungskräfte holten am Freitag (Ortszeit) ein zweijähriges Mädchen lebend aus den Trümmern eines eingestürzten Kindergartens. Das Kind war drei Tage lang verschüttet, wie das Ministerium für Entwicklungshilfe mitteilte.

Das Auswärtige Amt hat weiter keine Erkenntnisse darüber, ob Deutsche bei dem Erdbeben in Haiti verletzt wurden oder ums Leben gekommen sind. In Paris waren am Freitag etwa 150 Überlebende eingetroffen, darunter neben Franzosen auch Deutsche, Italiener und weitere Ausländer.

In Berlin startete am Samstagmorgen ein Flugzeug mit Hilfsgütern. Die Maschine soll am Sonntagvormittag (Ortszeit) in der Krisenregion ankommen, sagte die Sprecherin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Svenja Koch. Das Flugzeug bringt eine mobile Mini- Klinik. Das Lazarett soll in der Krisenregion die medizinische Grundversorgung Tausender Menschen gewährleisten. Es kann innerhalb eines Tages aufgebaut werden. In sieben großen Zelten wollen die Helfer dann täglich bis zu 250 Patienten versorgen.

Auch aus London hob ein Flugzeug mit tonnenweise Material in Richtung Haiti ab. Die Niederlande schickten ein Kriegsschiff mit Trinkwasser, Nahrung und medizinischen Hilfsgütern. Die „MS Pelikaan“ könne weitgehend selbstständig operieren, teilte das Verteidigungsministerium am Samstag mit. Es stach von den Niederländischen Antillen aus in See. Zuvor hatten die Niederlande ebenfalls ein Flugzeug mit Hilfsgütern geschickt. Auch vom Flughafen in Peking hob ein Jumbo-Jet mit 90 Tonnen Hilfsgütern an Bord ab.

Angesichts des großen Leids engagieren sich mittlerweile viele Prominente bei öffentlichen Spendenaktionen. In Deutschland und den USA gibt es in den kommenden Tagen TV-Galas für die Erdbebenopfer, in denen Stars wie George Clooney und Thomas Gottschalk zur Hilfe für den schwer getroffenen Karibikstaat aufrufen.