Al-Qaida sucht eine neue Symbolfigur. Experten spekulieren, ob al-Sawahiri in die Fußstapfen bin Ladens tritt oder das Terrornetzwerk auf einen formellen Anführer verzichtet.

Bagdad. Nach dem Tod Osama bin Ladens gilt sein langjähriger Stellvertreter an der Spitze von al-Qaida als wahrscheinlichster Nachfolger. Doch der Arabische Frühling und das in Bewegung geratene Kräftespiel innerhalb des Terrornetzes selbst könnten auf ein anderes Szenario hindeuten: überhaupt keinen Nachfolger für den Terrorfürsten zu benennen.

Den al-Qaida-Gründer zu ersetzen, ist wohl keine einfache Aufgabe. Die Entscheidung dürfte nach Einschätzung von Terrorexperten davon abhängen, wie die Organisation ihre Ziele und Prioritäten nach bin Laden definiert.

Der Aufstand in der arabischen Welt wird getragen vom Streben nach Demokratie, nicht nach dem von al-Qaida erträumten islamischen Großreich. Und während die Gruppe um ihre Bedeutung ringt, machen sich in den eigenen Reihen zunehmend Dezentralisierung und Differenzen breit.

Man müsse fast schon fragen, ob bin Laden eigentlich ersetzt werden könne, meint Oberstleutnant Reid Sawyer vom Terrorabwehrzentrum in West Point. Ob al-Qaida "überhaupt einen 'offiziellen' neuen Anführer benennen muss, ist ungewiss“, heißt es in einem Bericht der SITE-Gruppe, die islamistische Websites beobachtet. So lange die Organisation ihre Botschaft verbreiten könne, werde sie ein Leuchtfeuer für die Dschihadisten in aller Welt sein.

Wenig charismatischer Kontrollfreak

Falls al-Qaida einen Nachfolger kürt, halten Sawyer und andere Fachleute Aiman al-Sawahiri für die wahrscheinlichste Wahl: Der 59-Jährige war lange die Nummer 2 und ist erfahrener als jüngere Kandidaten. Kaum einer dürfte sich ihrer Ansicht nach trauen, ihm die Spitzenposition streitig zu machen. "Falls er zugunsten eines anderen übergangen wird, sagt mir das, dass al-Qaida schon zersplittert ist“, erklärt Fawas Gerges von der London School of Economics.

Al-Sawahiri, der irgendwo in Pakistan vermutet wird, ist Ägypter und Gründer des Ägyptischen Islamischen Dschihads, der in al-Qaida aufging. Ihm fehlt allerdings das Charisma bin Ladens, und manche al-Qaida-Mitglieder kreiden ihm Kontrollzwang bis ins kleinste Detail an, wie ein hoher US-Geheimdienstbeamter in Washington berichtet. "Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass er in gewissen Kreisen der Gruppe nicht beliebt ist. Daher ist es meiner Ansicht nach eine offene Frage, wer die Führung übernimmt.“

Ein möglicher Konkurrent ist der al-Qaida-Befehlshaber in Afghanistan, Abu Jahia al Libi. Der libysche Islamgelehrte entkam 2005 vom US-Stützpunkt Bagram und tauchte in Videos des Terrornetzes auf.

In Frage käme auch Saif al-Adel, den die USA für die Anschläge auf ihre Botschaften in Tansania und Kenia 1998 mitverantwortlich machen, doch er steht al-Sawahiri nahe und ist kein ausgewiesener Religiöser. Bestenfalls Außenseiterchancen dürfte der aus den USA stammende radikale Geistliche Anwal al Awlaki aus dem Jemen haben. Gegen ihn spricht, dass er keine praktische Erfahrung hat und bei al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel nicht einmal die Spitzenposition innehat.

Demokratie statt islamischem Reich

Als Nachfolger stünde al Sawahiri vor großen Problemen, die geschwächte Organisation wieder schlagkräftig zu machen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte der Westen befürchtet, dass bin Ladens Lehren attraktiv wären für unzufriedene junge Araber, die ihre repressiven Herrscher loswerden wollten und die Amerikaner gleich mit. Doch al-Qaida verlor viel von seiner Anziehungskraft, als sein irakischer Ableger im Irak-Krieg tausende schiitische Zivilisten tötete und hilflose Geiseln vor Fernsehkameras abschlachtete.

Bei den Aufständen, die in Tunesien begannen und sich über den arabischen Raum ausbreiteten, forderte die Jugend keinen Gottesstaat, sondern Freiheit und Demokratie. Für die drei Fünftel der arabischen Bevölkerung, die unter 30 sind, ist der 11. September 2001 höchstens eine Kindheitserinnerung. "Bin Laden gehörte der Vergangenheit an, genau wie die gestürzten arabischen Regimes“, sagt Chalil el Anani, ein Kenner der Dschihad-Bewegungen. "Welch ein Zufall, dass bin Laden im selben Jahr stirbt, in dem die arabischen Autokraten fallen.“

Viele Experten fragen sich, ob die al-Qaida-Spitze überhaupt einen neuen Anführer ausruft. Von al-Sawahiri war seit der Tötung bin Ladens nichts zu sehen; die Verlautbarung zum Tod des Terrorchefs war nur vom "Oberkommando von al-Qaida“ unterzeichnet und ging nicht auf die Nachfolge ein. Die Trauerzeit für bin Laden könnte das Verfahren verzögern. Und um einen Nachfolger zu bestimmen, müssten sich die Führungsmitglieder wahrscheinlich leibhaftig treffen, vermutet Sawyer. Dazu haben sie jetzt, da US-Fahnder die in bin Ladens Versteck gefundenen Materialien durchforsten, wohl überhaupt keine Lust.

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