Neue Augenzeugenberichte aus der Nachbarschaft des Verstecks. Für die Pakistanis war Osama bin Laden der große Unbekannte von nebenan.

Abbottabad. Nur ein paar Hundert Meter sind es vom Haus des pakistanischen Geheimdienstoffiziers zum Anwesen des getöteten Al-Qaida-Chefs am Stadtrand von Abbottabad. Seinen Namen will er nicht nennen, doch die Verwunderung steht ihm auch mehrere Tage nach Bekanntwerden der Nachricht ins Gesicht geschrieben. „Osama bin Laden und seine Leute haben ihre Anwesenheit hier sehr gut verschleiert.“ Er habe das Grundstück regelmäßig beobachtet. „Doch mir ist dort nichts Verdächtiges aufgefallen.“ Wie dem Offizier geht es den meisten Anwohnern des Viertels Bilal Town, in dem viele ranghohe Angehörige des Sicherheitsapparates leben und in dessen Nähe die wichtigste Militärakademie des Landes beheimatet ist. Nichts, was sich auf dem rund 3000 Quadratmeter großen Anwesen hinter hohen Mauern abspielte, schien Aufmerksamkeit zu erregen.

Das änderte sich in der Nacht zu Montag, als eine Spezialeinheit des US-Militärs das zweistöckige Haus stürmte und den Topterroristen erschoss. Der Lärm von Hubschraubern riss die Menschen in der Nachbarschaft aus dem Schlaf. Später waren Schüsse und die Schreie von Frauen und Kindern aus dem vorher so ruhigen Anwesen zu hören.

Doch die Zweifel sind geblieben. „Osama habe ich nie gesehen“, sagt der 32-jährige Abdul Rashid, der in Sichtweite des Hauses einen kleinen Lebensmittelladen betreibt. „Ich wusste nur, dass dort zwei Brüder und ihre Familien leben. Sie nannten sich Arshad und Tariq und waren gute Menschen.“ Rashids Kunden nicken zustimmend. „Die Männer kamen in mein Geschäft und haben Kekse, Schokolade und Eis für die Kinder des Hauses gekauft“, berichtet Rashid. „Oft haben sie die Kleinen auch mitgebracht, manchmal fünf oder sechs auf einmal.“ Nur eine Sache sei vielleicht ein bisschen ungewöhnlich gewesen: „Sie haben den Kindern nie erlaubt, Coca Cola oder Pepsi zu kaufen.“ Die Getränke der beiden US-Hersteller seien tabu gewesen.

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Auch zum Spielen hätten die Kinder das Anwesen verlassen. Unter Aufsicht der Männer, die bei der US-Operation wahrscheinlich getötet wurden, durften sie sich auf den umliegenden Feldern austoben. Doch obwohl sie landesübliche Tracht trugen und auch die Regionalsprachen Paschtu und Urdu beherrschten, sei der Kontakt mit anderen Gleichaltrigen vermieden worden, erinnert sich der Bauer Abdul Wahid, der hinter dem Bin-Laden-Anwesen seit Jahren Gemüse anbaut.

Eigenartig habe das jedoch niemand gefunden, sagt Wahid. „Ich bin ein armer Bauer. Diese Leute hatten ein großes Haus, Autos und Geld. Wenn sie nicht mit mir oder meinen Kindern reden wollen, warum sollte ich mich darüber beschweren?“ Wenige Meter entfernt stehen pakistanische Sicherheitskräfte. Sie bewachen das ehemalige Bin-Laden-Anwesen und die beiden versiegelten Eisentore. Etwas weiter entfernt sind Dutzende Reporter in Stellung gegangen, die seit Tagen rund um die Uhr und in alle Welt aus Abbottabad berichten. Irgendwann wollen die Behörden auch das Haus für die Medien öffnen, den Zeitpunkt kennt jedoch noch niemand.

„Überall sind Polizisten, Soldaten und vor allem die Journalisten“, seufzt Verkäufer Rashid. Darunter leide sein Geschäft, denn die Stammkunden blieben angesichts der großen Medienpräsenz derzeit lieber zu Hause. Überhaupt werde der ganze Zirkus um Osama bin Laden langsam anstrengend. Er wolle erst einmal die Beweise dafür sehen, dass der Al-Qaida-Chef tatsächlich in Bilal Town gelebt habe und auch wirklich tot sei. „Das ist nicht Osama, sondern ein Drama, das sich hier in unserer Nachbarschaft abspielt.“ (dpa)