Vor einem halben Jahr regierte in Hamburg das Eis-Chaos. Steffen Wolff stürzte auf einem Gehweg. Heute ist er querschnittgelähmt.

Uhlenhorst. Eine Melone ist das Einzige, was Steffen Wolff an sein Leben vor dem 16. Januar erinnert. Das Schwarz-Weiß-Bild ist mehr als 100 Jahre alt, historische Fotos sind Wolffs Leidenschaft. In seiner Wohnung auf der Uhlenhorst hingen viele an den Wänden, in seinem neuen Zimmer im Pflegeheim in Hameln mag er außer der Melone nichts aufhängen.

Rund 40 Jahre arbeitete Wolff als Fotograf, jetzt kann er keine Kamera mehr halten. Auch kein Glas, kein Messer, keinen Stift. Seine geschwollenen Finger gehorchen ihm nicht mehr. Seine Beine auch nicht. Er fühlt sie nicht einmal mehr. "Am 16. Januar bin ich praktisch gestorben", sagt Wolff.

Der vergangene Winter war in Hamburg der kälteste seit 14 Jahren. Die Krankenhäuser konnten die vielen Glatteisopfer kaum noch versorgen. Chirurgen schoben 16-Stunden-Schichten, Hunderte Verletzte mussten auf ihre Operationen warten, Betten wurden in Klinikfluren aufgestellt. "So etwas habe ich noch nie gesehen", sagte Ulrich Mayer, Leiter der Zentralen Notaufnahme der Uniklinik Eppendorf (UKE). Allein im UKE wurden im Februar in der Unfallchirurgie dreimal so viele Patienten behandelt wie im Vorjahr. Zu Spitzenzeiten lagen dort in 140 Betten Hamburger, die auf Glatteis ausgerutscht waren, die meisten mit gebrochenen Unterarmen und Sprunggelenken. Steffen Wolff hat es am schlimmsten getroffen.

Der 16. Januar ist ein kalter Sonnabend, in der Nacht hat es geschneit. Gegen 11 Uhr nimmt Wolff seine Einkaufstasche und verlässt die Wohnung. Vor der Haustür biegt er nach rechts, wie immer, wenn er zum Einkaufen will, in den Hans-Henny-Jahnn-Weg. Der 65-Jährige trägt feste Winterschuhe, seine Schritte knirschen im Schnee. Dann geht alles ganz schnell. Wolff verliert das Gleichgewicht, seine Beine rutschen nach vorne, er fällt nach hinten, auf den Rücken. Unter dem Schnee schimmert eine Eisplatte. Benommen rappelt Wolff sich auf, wankt die rund 20 Schritte zurück zu seinem Wohnhaus. Im Treppenhaus trifft er einen Nachbarn, er schimpft über den nicht gestreuten Gehweg und seine schmutzige Hose. Er ahnt nicht, dass er diese Treppe nie wieder hochgehen wird.

Wenige Minuten später wird sein Arm taub, die Spannung weicht aus seinem Körper, er kippt vom Sessel. Auf dem Fußboden liegend schafft er es, per Handy die Feuerwehr zu alarmieren. Auf dem Bild, das der Kernspintomograf im UKE auswirft, ist der siebte Rückenwirbel gebrochen. "C7-Fraktur mit intraspinalem Hämatom C2-Th4" lautet die offizielle Diagnose. Steffen Wolff ist querschnittgelähmt und sitzt ab jetzt im Rollstuhl.

Genau eine Woche später räumt Bürgermeister Ole von Beust (CDU) vor den Gästen des Presseballs ein, dass sein Senat für die glatten Straßen mitverantwortlich ist. Eine Stadt wie Hamburg müsse in der Lage sein, die Gehwege bei Eis und Schnee ausreichend zu streuen, sagt er. Im nächsten Winter werde man so etwas nicht mehr erleben. Dann würde die Stadt vorbereitet sein.

Steffen Wolff wird den nächsten Winter im Pflegeheim verbringen.

Schon im Krankenhaus ist ihm klar, dass er nicht mehr in seine Wohnung zurückkehren kann. Zweiter Stock, Altbau, kein Aufzug. 35 Jahre lang hat Wolff dort gelebt, auf 70 Quadratmetern, mit Blick auf den Osterbekkanal. In der Küche hat er ein eigenes Fotolabor, im Wohnzimmer lagern 24 Ordner mit Hunderten Negativen, mehr als 20 Kameras. Wolff hat sein ganzes Leben in diesen drei Zimmern archiviert. Er musste es zurücklassen.

Sein neues Zuhause ist nur 22 Quadratmeter groß, das Badezimmer nimmt fast ein Drittel der Fläche ein. 1570 Euro zahlt er jeden Monat, dafür wäscht ihn ein Pfleger, setzt ihn in den Rollstuhl, macht sein Bett, bringt ihm sein Essen, klein geschnitten.

"Ich lebe jetzt das Leben nach dem Leben", sagt Wolff. "Für mich zählen jetzt andere Dinge." Das erste Glas Chianti seit sechs Monaten. Die erste Pizza, die er sich auf sein Zimmer bringen ließ. Ein Steak, das wäre toll, sagt Wolff. Aber Steaks gibt es nicht beim Pizzaservice. Und im Heim gibt es heute Abend Wurstbrot.

Am Tag, als Wolff fünf Wochen nach seinem Unfall vom UKE ins Unfallkrankenhaus Boberg verlegt wird, erklärt Bürgerschaftspräsident Berndt Röder (CDU) seinen Rücktritt. Er hatte die Straße vor seinem Privathaus räumen lassen. In den angrenzenden Straßen türmten sich Schneeberge, das Eis formte dicke Spurrillen. Sogar die Müllabfuhr musste kapitulieren.

Der Gehweg, auf dem Wolff ausgerutscht ist, hätte von der Besitzerin des angrenzenden Wohnhauses geräumt werden müssen. Nachbarn hatten sie mehrmals aufgefordert, den Weg zu streuen. Vergebens. Die Bezirke führen gegen Verweigerer wie sie einen offenbar wirkungslosen Kampf. Bis zu 25 Mitarbeiter schickte der Bezirk Nord im Winter los, um die Wege zu kontrollieren. Hunderte Beschwerden über nicht geräumte Wege gingen ein, unzählige Verwarnungen wurden ausgesprochen, vereinzelt auch Bußgelder verhängt.

Genaue Zahlen kann Heino Fölser, der im Bezirk Nord für das Management des öffentlichen Raumes zuständig ist, nicht nennen. Man habe aber das Problem, dass viele Grundeigentümer ihrer Pflicht nicht nachkommen, erkannt und arbeite zusammen mit der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) an einem Konzept der "systematischen Kontrolle" für Glatteis. "Das Hin und Her, wer macht was, soll ein Ende haben", bestätigt Volker Dumann von der BSU. "So ein Chaos wie im letzten Winter soll es nie mehr geben."

Steffen Wolff ist sich sicher, dass sein Unfall vermeidbar gewesen wäre. Seine Krankenkasse sieht das genauso. Sie hat sich die Kosten seiner Behandlung von der Haftpflichtversicherung der Hauseigentümerin, die den Weg nicht geräumt hat, schon zurückgeholt. Insgesamt 250 Regressforderungen hat die Barmer GEK schon gestellt. Ein Drittel dieser Forderungen richtet sich gegen die Stadt Hamburg.

Steffen Wolff will die Hauseigentümerin nun auf Schadenersatz verklagen. "Es kann jetzt nur noch eine finanzielle Wiedergutmachung geben", sagt Wolff. Er steht erst nachmittags auf. Morgens und abends isst er im Bett. Er hat eine eigene Gabel, mit einem großen roten Griff, mit der kann er alleine essen, wenn es klein geschnitten ist. Im Speisesaal des Pflegeheims isst er nie. Das wäre zu anstrengend, sagt Wolff. Er will auch keinen Kontakt zu den anderen Heimbewohnern. "Ich glaube, ich bin hier der Jüngste", sagt er. Die meisten seien dement, mit denen könne er nicht reden. Seine Schwester kommt regelmäßig zu Besuch, ihretwegen ist er hierher gezogen, nach Hameln, in seinen Geburtsort. "Das hatte ich eigentlich nicht geplant", sagt er.

Hamburg fehlt ihm. Die Alster, der Hafen, die Flohmärkte. Erst wenige Monate vor seinem Sturz hatte Wolff auf Ebay ein neues Objektiv ersteigert. Die Fotos vom verschneiten Ohlsdorfer Friedhof hat er noch gar nicht gesehen. Der Film liegt noch in der Kamera.