Mieten und Nebenkosten steigen, vielen Alteingesessenen wird ihr Kiez zu teuer

Wilhelmsburg. Wer sich schnell einen Überblick verschaffen will, wie sich Wilhelmsburg verändert, muss nur in den Bus steigen, der vom Bahnhof Wilhelmsburg aus quer durch den Stadtteil auf die Veddel fährt - die "wilde 13", wie die Linie von den Wilhelmsburgern genannt wird. Sie kurvt durch die "Großbaustelle neue Mitte", vorbei an eingerüsteten Häuser und Bauarbeitern, die sich mit der Kettensäge im Gepäck einen Weg durch die alten Grünflächen bahnen, um Platz für die Gartenausstellung zu schaffen. Die "13" kommt auch am Bürgerhaus vorbei. Das Gelände rund um den Backsteinbau ist nicht wiederzuerkennen "Wie im Krieg", sagt eine alte Frau, die hier aussteigen muss. Dort wird kräftig gewühlt. Blühende Gärten wie man sie auf dem Baustellenschild sehen kann, lassen sich nur erahnen.

Wo einst Kioske waren, sind Coffee-to-go-Shops

An der Veringstraße steigt eine junge Frau mit ihren drei Kindern ein, die Kleinen haben ihre Dreiräder und Roller mit und schwenken bunte Fähnchen. Ein junger Mann mit Laptop im Gepäck muss Platz machen. Auf Türkisch fragt die Mutter ihre Lütten, ob sie nicht doch irgendetwas auf dem Spielplatz vergessen haben. Bei der Fährstraße steigen alle fünf aus. Die kleine Familie geht, rollert und hüpft in Richtung Klabunde-Bauten, der junge Mann marschiert zu einem der kürzlich renovierten Gründerzeit-Häusern. Zuvor holt er sich in einem der neuen, schicken Cafés noch einen Cappuccino.

"Hier hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert", sagt Thorsten Fellberg, der mit seiner Frau Elise und seinem kleinen Sohn Justus, 2, in einem der Altbauten lebt. Wo einst Kioskgeschäfte, Kulturcafés und Kramläden ansässig waren, finden sich jetzt Coffee-to-Go-Shops sowie ein Süßigkeiten-Spezialitätenladen mit Pralinen-Sortiment in der Auslage. Altbauten, jahrzehntelang im Dornröschenschlaf, werden jetzt renoviert. Auch das Gebäude, Baujahr 1910, in dem die Fellbergs wohnen, hat längst nicht mehr den angegammelten Charme von vor einigen Jahren. Die neuen, gedämmten Fenster, das Bad, die glänzenden, abgeschliffenen Pitchpine-Dielen, Gasetagen- statt Nachspeicherheizung - das hat seinen Preis.

Thorsten Fellberg, der als Erzieher in Heimfeld arbeitet, rechnet vor: "Bei unserem Einzug in diese 88-Quadratmeter Wohnung im September 2006 lag der Mietzins bei 3,46 Euro pro Quadratmeter, heute zahlen wir 6,11 Euro." 2006 wurde ein Betriebskostenabschlag von 48,23 Euro gefordert, heute stehen 93,44 Euro auf der Abrechnung. Waren es vor einigen Jahren noch 546 Euro Miete einschließlich Strom und Wasser, verlangt der Vermieter jetzt 809, 56 Euro. "Das ist schon ein spürbarer Unterschied", so Fellberg.

Viele der Nachbarn hätten sich schon verabschieden müssen. "Die wollten oder konnten die teurere Miete nicht mehr bezahlen." Die Fellbergs möchten ihre schöne, luftige Wohnung gerne behalten, trotz des Mietensprungs. "Es gefällt uns hier sehr. Ich kann mit Justus schnell auf den neuen, großen Spielplatz gegenüber. Dort ist auch seine Kita. Außerdem gibt es hier gute Einkaufsmöglichkeiten, und der Bus ist fast vor der Haustür", sagt Elise Fellberg.

Die Veränderungen sind Nicht alle beunruhigend

Ihre Familie, Eltern und Oma, leben schon seit langem in Wilhelmsburg. Die Veränderungen im Stadtteil finden die Alteingesessenen nicht nur beunruhigend. "20 Jahre lang konnte man hier nicht Kaffeetrinken gehen. Jetzt kann man sich mal mit seinen Freunden treffen. Das ist doch ein Stück mehr Lebensqualität", sagt Elise. Die Fellbergs sehen aber auch die Schattenseiten. Alleinerziehende, Leute, die auf Hartz-IV angewiesen sind und Geringverdiener können die teureren Mieten nicht bezahlen. "Die müssen dann wegziehen", sagt Thorsten Fellberg. Nicht immer sind die Fellbergs vom Selbstverständnis der neuen, finanzstärkeren Bewohner, die von der anderen Elbseite auf die Insel ziehen, einverstanden.

Die sogenannte Gentrifizierung laufe immer gleich ab: Wegen günstiger Mieten werden Stadtteile für Studenten und junge Künstler attraktiv, die die Stadtteile aufwerten. Viele Studenten steigen später ins Berufsleben ein, verdienen dann deutlich mehr Geld als die alteingesessenen Bewohner; Investoren sehen Chancen zur Wertsteigerung, erste Häuser und Wohnungen werden restauriert, Szene-Clubs und Lokale entstehen - nun steigen die Mieten, und finanziell schwache Bewohner wandern wegen der höheren Mieten ab.

"Wie in der Schanze", sagt Elise, die dort längere Zeit gewohnt hat. Solche Verhältnisse möchte sie für Wilhelmsburg nicht. Daher sieht sie das Engagement einiger Neu-Wilhelmsburger, die für die Erhaltung der alten, gewachsenen Sozialstrukturen sind, skeptisch. "Wenn die ganz konsequent wären, dann würden sie wegziehen und somit den alten Bewohnern nicht mehr die Wohnungen wegnehmen", sagt sie und schaut nachdenklich aus dem Fenster - auf die Kirche im Reiherstiegviertel und auf die Klabunde-Bauten. Den Info-Laden, in dem Narmin Pientka gerade mit ihren Freunden den Küche-für-alle (Kü-fa)-Abend vorbereitet, kennt sie auch.

Vor zwei Jahren haben die Info-Laden-Betreiber, die Initiative für ein soziales Wilhelmsburg, das 28 Quadratmeter große Ladengeschäft von der Saga angemietet. Sie wollen sich für ein gutes Miteinander der Bewohner einsetzen und auch etwas für den Stadtteil tun, bieten Flohmärkte, Diskussions-Veranstaltungen und eben auch die Kü-Fa für alle an. Heute steht Grillen an. "Wer will, zahlt etwas fürs Essen", sagt Pientka, die vor dem Backsteingebäude Salat in eine große Schüssel schnippelt. Die Lebensmittel wurden durch Spenden finanziert. Wie auch die Miete.

Einige Besucher des Info-Ladens haben Plakate von der Mauer abgekratzt. Auch der Briefkasten, ein ehemaliger Benzinkanister, muss wohl bald weichen. "Unser Vermieter, die Saga, droht mit der Kündigung, wenn hier weiterhin plakatiert wird. Der Briefkasten passt denen auch nicht. Für IBA und igs muss halt alles schön sein", sagt sie und zeigt das Schreiben der Wohnungsbaugesellschaft. Der Info-Laden will am Standort bleiben. Man hofft, sich mit der Saga einigen zu können.

Auch der Kulturladen hat Seine Plakate entfernt

Mario Spitzmüller, Sprecher der Gesellschaft, signalisiert Gesprächsbereitschaft. "Wir haben nichts gegen die jungen Leute und finden es auch gut, was sie alles anbieten. Aber die wilde Plakatierung und der Briefkasten - das muss nicht sein." Wer die Fassaden an der Fährstraße genauer betrachtet, bemerkt, dass auch der Kulturladen einige Meter weiter seine Plakate entfernt hat. Auch der Kiosk beim Info-Laden nebenan achtet auf eine reinliche Fassade, und ein weiteres Geschäft hat sogar eine eigene Stellfläche für Poster und Flyer zur Verfügung gestellt.

Und die Saga renoviert ebenfalls die Gründerzeit-Häuser aus ihrem Bestand. Auch ein Altbau bei Familie Fellberg gegenüber ist gerade eingerüstet. Neue Balkone - zum Hinterhof, um die Gründerzeit-Fassade nicht zu verschandeln - neue Heizungsanlage und Fenster werden unter anderem eingebaut. "Die Mieter werden künftig eine Menge Heizkosten sparen", so Saga-Sprecher Spitzmüller. Die Mieterhöhung soll moderat eingeführt werden, über mehrere Jahre verteilt. Spitzmüller: "Keineswegs sollen die Bewohner verdrängt werden."

Auch die Politik beschäftigt sich mit der Stadtteilaufwertung. So forderte die SPD eine Art Monitoring von Gentrifizierungsprozessen. "Alteingesessene Bewohner müssen eine Chance haben", so die SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Anne Krischok. Sie hat im Rahmen ihrer politischen Arbeit Erfahrungen mit sozialer Verdrängung. Sie kann verstehen, dass sich Wilhelmsburger Sorgen machen. "Viele bleiben auf der Strecke. Das darf nicht sein."

Das Thema Aufwertung des Stadtteils ist ebenfalls Gegenstand von Diskussionen bei den Besuchern des Grillabends beim Info-Laden, an dem die "wilde 13" vorbeifährt.