Hamburger Handelskammer begrüßt höchstrichterliches Urteil. Anwalt warnt Firmen, generell vom ersten Fehltag ein Attest zu verlangen.

Erfurt/Hamburg . Es ist ein Urteil, das Arbeitnehmer aufhorchen lässt: Beschäftigte müssen bereits am ersten Krankheitstag ein ärztliches Attest vorlegen, wenn ihr Chef das von ihnen verlangt. Das war zwar auch bisher schon möglich, doch das gestrige Urteil des Bundesarbeitsgerichts (Aktenzeichen: 5 AZR 886/11) geht noch ein Stück weiter. Nach dem Erfurter Richterspruch muss der Arbeitgeber nicht mehr begründen, warum er schon so früh auf das Attest pocht. "Ob eine Begründung vorliegen muss oder nicht, darüber gingen die Meinungen der Juristen bisher auseinander", sagt der Arbeitsrechtler Reinhard Vossen.

Mit dem Erfurter Urteil werde es für Mitarbeiter nun schwieriger, sich gegen derartige einseitige Anordnungen zu wehren. "Sie müssen diesen in aller Regel Folge leisten." Beschäftigte könnten im Streitfall höchstens bei dem Verdacht auf Willkür oder Diskriminierung dagegen vorgehen. "Das dürfte allerdings im Einzelnen schwer nachzuweisen sein, weil das Ausnahmetatbestände sind", sagt Vossen.

Die Hamburger Handelskammer begrüßte die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. "Kontrolle kann im Einzelfall notwendig sein. In diesem Sinne ist es von Vorteil, dass das Bundesarbeitsgericht die Arbeitgeberseite stärkt", sagte Kammer-Chefvolkswirt Dirck Süß. Generell sollte aber in Unternehmen eine Kultur des Vertrauens entwickelt werden, die mit bürokratischem Aufwand verbundene Kontrollen des Arbeitnehmers auf ein Minimum beschränkt, so Süß weiter. "Denn Vertrauen ist besser als Transparenz und Überwachung."

In dem vor dem Bundesarbeitsgericht verhandelten Fall setzte der Arbeitgeber aber auf Kontrolle statt Vertrauen. Die von der dagegen klagenden Redakteurin vermutete Willkür vermochten die obersten deutschen Arbeitsrichter nicht zu erkennen. Die 59-Jährige hatte eigenen Angaben zufolge wegen der Verweigerung einer Dienstreise derart hohen Blutdruck bekommen, dass sie einen Tag zu Hause blieb. Daraufhin forderte sie ihr Arbeitgeber auf, künftig immer gleich am ersten Tag der Krankmeldung ein Attest vom Arzt vorzulegen. Da das nicht von allen Mitarbeitern verlangt wurde, vermutete sie Schikane. "Ich weiß nicht, warum ich anders behandelt werde als alle anderen", sagte die erfolglose Klägerin nach der Verhandlung in Erfurt.

Das Gesetz zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall besagt, dass das ärztliche Attest grundsätzlich erst nach drei Krankheitstagen fällig ist und spätestens am vierten Fehltag vorliegen muss. Weiter heißt es aber in dem Gesetz: "Der Arbeitgeber ist berechtigt, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen." Die Erfurter Arbeitsrichter legten diese Bestimmung jetzt so aus, dass eine frühere ärztliche Bescheinigung ohne Begründung gefordert werden kann. Etwas anderes gelte nur, wenn der Tarifvertrag die frühere Vorlagepflicht "ausdrücklich ausschließt", heißt es in der Entscheidung der Erfurter Richter weiter. Im Tarifvertrag der Rundfunk-Redakteurin war das jedoch nicht der Fall.

Für den Düsseldorfer Arbeitsrechtler Tobias Törnig kommt die höchstrichterliche Entscheidung dennoch wenig überraschend. Er rät Arbeitgebern trotzdem, sich genau zu überlegen, in welchen Fällen sie derartige Anweisungen treffen: "Der Schuss kann auch nach hinten losgehen." Verlange der Chef schon am ersten Krankheitstag eine Bescheinigung, zwinge er damit Arbeitnehmer auch bei kleinerem Unwohlsein zum Arztbesuch. "Und die Ärzte schreiben zumeist länger als einen Tag krank", gibt Törnig zu bedenken. 2011 waren die Arbeitnehmer nach Angaben des Statistischen Bundesamtes durchschnittlich 9,5 Arbeitstage krankgemeldet. Seit 2008 nimmt die Zahl der Krankheitstage wieder leicht zu (siehe Grafik).