Die junge Kurdin Arzu Ö. wurde von fünf Geschwistern entführt und einem der Brüder getötet. Wollten sie die Schwester heimholen? Oder war es Mord?

Detmold. "Ich war die Schwester von neun Geschwistern, jetzt sind es leider nur noch acht.“ Jedes Schluchzen der Frau mit den langen braunen Haaren ist an diesem Montag in dem vollbesetzten Gerichtssaal 165 des Detmolder Landgerichts zu hören. Mehr als eineinhalb Stunden lang schildert Sirin Ö. (27), wie sie und vier ihrer Brüder die 18-jährige Schwester im November 2011 verschleppten. Man habe ihr nur den Kopf waschen wollen, alles sollte wieder gut werden, versichert Sirin. Am Ende aber ist Arzu Ö. tot.

Sie wurde erschossen, mit zwei Kugeln in die Schläfe. Der 22 Jahre alte Osman bestätigt vor Gericht: Ja, er habe die Kontrolle verloren und abgedrückt. Erst zehn Wochen später wurde die Leiche gefunden. Jetzt müssen sich Osman, Sirin und ihr Bruder Kirer (25) wegen Mordes vor Gericht verantworten. Die Anklage spricht von „ehrbezogenen Motiven“. Den dreien und zwei weiteren Brüdern wird zudem die Entführung ihrer Schwester vorgeworfen.

Rückblick: Die jesidische Familie Ö. kommt vor 25 Jahren aus dem kurdischen Teil der Türkei nach Detmold. Da ist Sirin schon auf der Welt, es folgen neun Geschwister. Die Familie fasst Fuß, die Kinder gehen zur Schule, machen Ausbildungen, arbeiten. Alles scheint im Lot, die Integration gelungen.

+++ Ermordete Arzu – "Sie wollte einfach westlich leben" +++

Der Name Arzu bedeutet übersetzt Wunsch, Wille. Aber mit ihren Wünschen gerät die junge Frau auf Kollisionskurs mit ihrer Familie. Arzu hat im Spätsommer 2011 seit einigen Wochen einen Freund. Er ist kein Jeside und darum für die Familie nicht akzeptabel.

Zeugen schildern die Nöte Arzus: Wie sie erzählt, dass sie von Brüdern verprügelt und eingesperrt wird. Arzu flieht ins Frauenhaus, schneidet sich die Haare ab und lässt ihren Namen ändern, denn die Familie habe schon den Flug in die Türkei gebucht. Arzu erzählt ihrer Anwältin, dass sie dort zwangsverheiratet oder eben von ihren Brüdern umgebracht werden solle. Die Familie verstößt die geflohene Tochter.

Die ältere Schwester Sirin arbeitet bei der Stadtverwaltung. Sie berichtet vor Gericht stockend, wie sie im Herbst 2011 nach Arzu sucht, dabei ihre Möglichkeiten beim Einwohnermeldeamt nutzt. Zuletzt ist es aber ein Zufall, der Arzu zum Verhängnis wird. In der Nacht zum 1. November entdecken Sirin und die vier mitangeklagten Brüder, dass Arzu bei ihrem Freund, dem Bäckergesellen ist.

Sie entführen die Schwester mit Gewalt, doch dann bricht Sirins Plan zusammen: Die Familie - Sirin Ö. vermeidet das Wort „Eltern“ - lehnt es ab, Arzu wieder aufzunehmen, sagt die Angeklagte. Wohin jetzt? Die Brüder Kirer und Osman sowie Sirin fahren mit der schimpfenden Schwester Richtung Hamburg. Dort wohnt ein junger Onkel. Aber der ist nicht zu Hause. Es soll zu Verwandten nach Lübeck weitergehen.

Bei einer Pause im Wald eskaliert die Situation: Osman schildert mit tonloser Stimme, wie Arzu ihn anspuckt und auf die Eltern schimpft. Er zieht eine Waffe, befiehlt ihr, still zu sein. „Dann habe ich die Kontrolle verloren.“ Osman sei es auch gewesen, der besonders brutal zugeschlagen habe, wenn es mal wieder darum gegangen sei, Arzu zu disziplinieren, sagen Zeugen. Kirer bestätigt die Tat.

Die anderen beiden wegen der Entführung mitangeklagten Brüder Kemal und Elvis hatten die Geschwister in der Tatnacht verlassen, nachdem sie die Schwester aus der Wohnung ihres Freundes verschleppt hatten. Vor Gericht geht es jetzt vor allem darum zu klären, ob die Tötung geplant war oder ob ein „Bekehrungsversuch“ völlig aus dem Ruder gelaufen ist.