Mecklenburg: Altweibersommer ist die vielleicht schönste Zeit auf Fischland, Darß und Zingst. Kenner schätzen die die Nachsaison. Denn in Massen kommen jetzt nur noch Kraniche.

Die Kraniche rücken zusammen. Zu Tausenden sammeln sie sich in den Windwatten, dem trocken gefallenen Meeresboden zwischen Zingst und der Südspitze von Hiddensee. Bald werden sie das Boddenland in Vorpommern, ihren wichtigsten Rastplatz auf dem langen Weg von Skandinavien in den tiefen Süden, verlassen, um erst im Frühjahr hier wieder Station zu machen. Am Rande des Radweges durch die Feld- und Wiesenlandschaft von Wieck nach Prerow leuchten Hagebutten und Vogelbeeren. Ein Seeadler lässt sich von einer milden Brise über den blassblauen Himmel schieben, und der dichte Märchenwald im Zentrum der Halbinsel Darß fängt langsam an sich zu verfärben.

Die Zeit der Zünftigen hat begonnen, die Saison nach der Saison. Noch riecht es nicht nach Abschied, noch haben die Kioske an den kleinen Häfen geöffnet. In den Kaffeegärten und auf den Terrassen der Fischrestaurants, der Teestuben und Künstlerhöfe sitzt man länger und ruhiger als noch vor ein paar Tagen. Wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, stemmt sich gegen den Wind in Richtung Prerow-Strom, der die Halbinseln Darß und Zingst ein Stück weit trennt. Zu dem Trio an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns gehört auch das Fischland im Westen mit dem hübschen Hafenort Wustrow.

Die drei Landschaften, ursprünglich Inseln, sind vor gut 3000 Jahren allmählich zusammengewachsen. So richtig geschlossen haben sie sich aber erst vor 600 Jahren. Immer noch wandelt sich der Küstenverlauf. Mancher Fels, auf dem sich im Sommer jemand sonnte, ist vielleicht schon im nächsten Jahr, zusammen mit einem Stück Steilküste, im Meer verschwunden.

Ein braunes Segel ragt aus der Wiese. Es gehört zu einem Fischerboot traditioneller Bauart, das den "Strom" befährt, benannt nach dem Schleppnetz ("Zeese"), das einst zu diesem Typ gehörte. Längst tuckern Zeesenboote nur noch mit Touristen von einem Hafen zum anderen und quer über den Bodden. In Prerow machen Fischkutter, Ausflugsdampfer und Jachten fest.

Auf dem Friedhof der Prerower Kirche mag man der maritimen Vergangenheit dieser Landschaft nachsinnen. Windjammer zieren viele der Grabsteine. Auch im Gotteshaus erinnern Schiffsmodelle an die große Zeit der Seefahrer, die aus Vorpommern einst ins Baltikum und bis nach Übersee gesegelt sind. Die Ursprünge der Backsteinkirche reichen in die Zeit nach dem 30-jährigen Krieg zurück, als diese Region für 167 Jahre zu Schweden gehörte.

Am Darßer Ort, dem Nordzipfel unterhalb vom alten Leuchtturm, ist es jetzt wieder leicht möglich, einen roten Strandkorb in der ersten Reihe zu besetzen. Aus 35 Meter Höhe, nach 126 Stufen, geht der Blick weit übers Meer, die Dünen, die Dörfer und den Wald, der in den nächsten Wochen zum Lieblingsrevier der Pilzsammler wird. Bis 1978 tat hier oben noch ein Wärter seinen Dienst.

Die Seeluft und der Wind lassen die Wangen glühen: Vorfreude auf den Kaffee mit Rum in den vielen gemütlichen Restaurants, auf die Sauna oder die Massage in den Wellnesszentren einiger Hotels. Fried Krüger, ideenreicher Chef des Tourismusverbandes für die drei Halbinseln und das angrenzende Festland, fasst zusammen, was eine kleine Flucht aus dem Alltag jetzt bewirken kann: "Die Seele wird gestreichelt und gebadet, die Sinne werden gesalzen." Zum Beispiel wenn der Klangkünstler Lutz Gerlach die Urlauber mal wieder überrascht. Mal stellt er ein Klavier auf den Deich, ein anderes Mal setzt er ein Streichquartett unter die alten Bäume des Darßer Waldes. Immer will er Musik und Natur vereinen - am Strand, in Pfarrgärten, am Boddenufer, im Vogelpark Marlow.

Ganz andere Töne sind bis in den November hinein auf der Landzunge nördlich von Stralsund zu hören, Zingst und der Insel Hiddensee direkt gegenüber. Dort trompeten und tanzen die Kraniche, 30 000 sind es wohl schon, bald werden es sicher 40 000 und mehr sein. Nirgendwo sonst in Mitteleuropa sammeln sich so viele dieser Vögel, bevor sie in den Süden ziehen, manchmal erst Anfang Dezember. Dr. Günter Nowald vom Kranichzentrum Groß Mohrdorf garantiert allen Besuchern ein unvergessliches Spektakel: "Es ist ein Gänsehautgefühl, wenn die Luft erfüllt ist vom Flügelschlag, wenn die Kraniche mit lauten Rufen ihre Schlafplätze ansteuern."

Auch die Zahl der Touristen ist imposant: Weit über vier Millionen übernachten jedes Jahr auf den drei Halbinseln und dem Land zwischen Ribnitz-Damgarten und der alten Hansestadt Stralsund, das auch zur Region gehört. Im Juni oder Juli stauen sich nicht selten die Autos auf der schmalen Straße durch Ahrenshoop. Aber im Altweibersommer drängelt nicht einmal jemand um einen idealen Platz für ein Foto der Kate auf dem Hohen Ufer, die fast zu einem Wahrzeichen geworden ist. Schon vor 100 Jahren war das Reetdachhaus das beliebteste Motiv jener Maler, die hier eine Künstlerkolonie begründeten. Jetzt bleibt wieder Zeit fürs Klönen mit den Galeristen, Kunsthandwerkern und Musikern, die diese Kolonie zu einem Treffpunkt von (Lebens-)Künstlern machen.

Friedemann Löber, renommierter Keramiker im "Dornenhaus", nicht weit vom Althäger Hafen entfernt, weist auf neue und alte Künstlerwerkstätten hin. Allein sein Haus, fast 450 Jahre alt und liebevoll hergerichtet, lohnt den Besuch. Und bei Roland Fischer, Besitzer des traditionsreichen "Cafe Namenlos" (das ab Oktober renoviert wird) und des Hotels "Fischerwiege" in Ahrenshoop, wird noch immer diskutiert, was denn anstelle der Kurhaus-Ruine aus DDR-Zeiten in der Mitte von Ahrenshoop gebaut werden soll.

Nur zehn oder zwölf Kilometer und doch Welten von der Ahrenshooper Betriebsamkeit entfernt liegt Wieck, vielleicht der schönste, bestimmt aber der ruhigste Ort auf dem Darß. Im kuscheligen Landhotel "Haferland" bezieht Chefkoch Kurt Jäger, vielfach ausgezeichnet von Gourmetführern, die Produkte seiner Küche fast ausschließlich aus der Nachbarschaft. Jetzt, in der Wild- und Pilzsaison, bieten ihm befreundete Jäger und Sammler frische Ware aus den Darßwäldern an. Die Fische - Zander, Aal, Barsch oder Hecht - stammen aus der Ostsee oder von den Boddenfischern, die ihren Fang morgens vor der Haustür anlanden.

Und noch einmal ganz anders: die Stimmung auf dem Zingst. Im gleichnamigen Hauptort der östlichsten Halbinsel ist das Angebot an Campingplätzen, Cafes, Lokalen und abendlicher Abwechslung am größten. So groß, dass Tourismuschef Fried Krüger von der "geilen Meile" spricht. Aber mühelos lassen sich auch hier Juwelen finden, etwa die Dorfkirche Peter-Paulus mit ihrem markanten Staffelgiebel und, ganz in der Nähe, bunt bemalte Haustüren, wie sie Tradition in fast allen Orten dieser Region sind.

Letzter Morgen, letzter Blick auf den Wiecker Bilderbuchhafen. In den Bäumen am Ufer und in der Takelage der Zeesenboote glitzern Spinnweben. Der Herbst ist bald da, der Winter nicht mehr fern. Vielleicht friert der Bodden im Januar zu. Dann beginnt die Saison Eisangler und Eissegler.