Grube Messel: Deutschlands einziges Weltnaturerbe. Was vor einer halben Milliarde Jahren in dem See lebte, gibt heute Aufschluß über die Entwicklung der Erdgeschichte und die Evolution.

Zehn Kilometer östlich von Darmstadt fühlen sich Krokodile wohl. Der Messelsee, etwa 800 Meter im Durchmesser und 200 Meter tief, in dem sie dümpeln, ist von dichtem Regenwald umgeben. Drückende Schwüle herrscht, es dampft im subtropischen, von Lianen durchwucherten Urwald, in dem Halbaffen und Fledermäuse in den Bäumen hängen, Eidechsen, Schlangen und Urpferde am Boden leben. Nun steht wieder die Regenzeit an, es wird so viel Wasser vom Himmel fallen, daß Unmengen von Erde in den See geschwemmt werden. Dabei werden viele Uferbewohner, die normalerweise bei Gefahr auf eine schnelle Flucht von den abschüssigen Hängen eingestellt sind, ihre Behausung verlieren. Den meisten gelingt es zu überleben, einige werden jedoch ins Wasser gespült und ertrinken. Wirklich geschützt sind nur Schlammfische, Barsche, Krokodile und Schildkröten.

So stellt man sich vor, was vor 49 Millionen Jahren in dem See geschah, der sich nach der Explosion eines Vulkans in dessen Krater gebildet hatte. Er bescherte 1995 Deutschland sein bisher einziges Weltnaturerbe. Die Grube Messel in Südhessen, umgeben von einem öden Industriegebiet und einem idyllischen Laubwald, ist eine Schatzkammer ersten Grades. Archäologen, Paläontologen und interessierte Laien reisen von weither an, um einen Blick in das grauschwarze, schüsselförmige Erdloch, bewachsen von Sumpfgräsern, Haselnußsträuchern und ein paar Borken, zu werfen. Dort setzte sich vor fast einer halben Milliarde Jahren am Boden des Sees Faulschlamm ab, in dem organische Partikel und Algen wegen fehlenden Sauerstoffs nicht den Verwesungsprozessen ausgeliefert waren, die alles gestorbene Leben unaufhaltsam zersetzen.

Millionen urzeitlicher toter Tiere und Pflanzen wurden im Faulschlamm mit Haut und Haaren konserviert, darunter Muttertiere, die den Fötus noch im Leib tragen, und andere, die noch ihre letzte Mahlzeit im Magen haben. Nach der Verlandung des Sees versteinerten Fauna und Flora zu Ölschiefer und wurden später von Erde bedeckt.

Die Grube ist heute komplett freigelegt, Archäologen arbeiten darin und machen aufsehenerregende Funde. Ihre Schubkarren sind randvoll mit Ölschieferbrocken, die sie, auf Klappstühlen sitzend, in den Schoß nehmen und sorgsam in millimeterdünne Schichten spalten. Dabei tauchen im Stundentakt fossile Überreste auf, von denen sich manche als paläontologische Überraschungen entpuppen. Eine Aussichtsplattform gibt es schon, bis 2008 wird ein Besucherzentrum entstehen. Dann werden Massen von Neugierigen anreisen, um der Evolution greifbar nahe zu kommen. Wer noch in Ruhe durch dieses Fenster ins Eozän blicken will, sollte jetzt schon hinfahren.

1875 wurde das wertvolle Gebiet entdeckt, nachdem man ein versteinertes Krokodil gefunden hatte. Damals begann der Ölschieferabbau, im Tagebau wurden von Hand Öl, Paraffin und Teer gewonnen. Der Grubenbesitzer war selbst Hobby-Paläontologe und achtete darauf, daß Fossilienfunde in Museen gelangten. Nach dem Abzug des Baustoff-Unternehmens Ytong 1971 - der Abbau von Ölschiefer war nicht mehr rentabel -, kam es zu ersten wissenschaftlichen Grabungen. Seit Jahren werden diese professionell absolviert. "Die Atmosphäre in der Grube ist ganz speziell", sagt Welterbe- Geschäftsführerin Marie-Luise Frey. "Besucher erkennen, daß die hier gefundenen Säugetiere Teil unserer eigenen Entstehungsgeschichte sind." Sie hätten die einmalige Möglichkeit, "die Bedeutung der Evolution im wahrsten Sinne zu begreifen". Anfassen ist nämlich erlaubt.

Nirgendwo hierzulande kann man die erdgeschichtliche Entwicklung derart nachvollziehen. Sie brachte auch die niedlichen Urpferdchen hervor, Lieblinge der Schulklassen, aber auch der Archäologen. Mehrere davon sind schon entdeckt worden, Exponate sind im Darmstädter Landesmuseum und im Frankfurter Senckenberg-Museum zu sehen. Die 30 Zentimeter kleinen Urpferdchen sind Vorfahren der heutigen Pferde, sie ernährten sich hauptsächlich von Blättern und Obst. Eine der vielen unbekannten Tierarten, die aus den Versteinerungen hervortraten, ist nach Joschka Fischer benannt, dem einstigen grünen Umweltminister von Hessen, der sich stark machte für den Erhalt dieses einzigartigen Naturerbes. Die Palaeopython fischeri war eine Riesenschlange. Es soll Fischer gefallen haben, daß ausgerechnet ein als listig geltendes Tier seinen Nachnamen erhielt. Nach 17 Jahren erbittertem Streit verhinderte er, daß das urzeitliche Biotop mit dem Abfall aus Frankfurt, Offenbach und Darmstadt zugeschüttet wurde.

Unbekannte Krokodilarten, Schildkröten, kranichartige Vögel und der spektakuläre Fund eines Urhuftiers, eines so genannten Kopidodons, verleihen der Grube Messel einen besonderen Stellenwert. Das etwa einen Meter lange Urhuftier besaß furchterregende Eckzähne, kletterte aber wie ein Eichhörnchen durch die Bäume und ernährte sich vegetarisch - von Früchten, die es im damaligen südhessischen Urwald reichlich gab. Viele der aufgefundenen Pflanzenfossilien sind Gewächsen in Südostasien ähnlich, die Tiere dagegen gleichen der Fauna Südamerikas.

Die meisten der schon mehr als 40 000 Funde sind zwar keine Säugetiere, sondern Insekten und Pflanzen. Aber es wurden auch Tapire und Ameisenbären kategorisiert, 31 Reptilien-, acht Fisch- und fünf Amphibienarten - viele als Vollkörper-Skelette erhalten, darunter eine Schildkröte mit Eiern im Bauch und eine Schlange, die kurz vor dem Ertrinken ein kleines Krokodil gefressen hatte. Das Versacken am Seegrund und das Versteinern unter Sauerstoffausschluß verliefen so ungestört, daß die Umrisse der Tiere perfekt erhalten blieben. Die Große Würgeschlange sieht aus, als sei sie eben erst eingeschlafen, dem Doppelhundszahn-Krokodil mit seinem spitzen, scharfen Gebiß möchte man nicht in freier Wildbahn begegnen, und der Messeler Ameisenbär trägt einen Schwanz, der so lang ist wie sein Körper. Winzige Mondaugenfischchen dagegen kann man nur unter der Lupe begutachten.

Das Hügelland rund um die Grube Messel eignet sich gut für eine Wanderung oder Radtour. Nahebei liegen Darmstadt und Frankfurt, zwei interessante Städte, die viel an Kultur und Freizeitvergnügen zu bieten haben. Für manche Christen aus den USA ist die Grube Messel allerdings verbotenes Terrain - ihre fundamentalistischen Kirchenführer verbieten den Besuch, weil hier die darwinistische Evolutionstheorie so präzise bestätigt wird wie nur noch an wenigen anderen Orten der Welt.