120.000 Hamburger sind tagsüber Straßenlärm ausgesetzt. Zur Bekämpfung sollten auch die Fahrzeuge leiser werden, raten Experten. Wird Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit?

Hamburg. Rund 120.000 Hamburger sind tagsüber Straßenlärm ausgesetzt, der den Höchstwert von 65 Dezibel (dB) überschreitet. Ab diesem Wert empfiehlt der Umwelt-Sachverständigenrat der Bundesregierung Maßnahmen zur Lärmminderung. Der nächtliche Schwellenwert von 55 dB ist sogar in den Wohnbereichen von 144.000 Menschen überschritten. Mit ihrem Lärmaktionsplan (Stufe 2 ist gerade in der behördlichen Abstimmung) will die Stadt dem Problem begegnen. Doch angedacht seien vor allem Insellösungen, es fehle ein Gesamtkonzept, kritisierte Christian Popp, Geschäftsführer des Hamburger Ingenieurbüros Lärmkontor. Es hatte Ende vergangener Woche eine Tagung zum Thema Verkehrslärm organisiert, an der 150 Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz teilnahmen.

An fast allen Abschnitten des Hamburger Hauptstraßennetzes inklusive Autobahnen herrscht nach den Daten der Behörde für Umwelt und Stadtentwicklung (BSU) zu viel Lärm. „Gesamtstädtisch sollte das Geschwindigkeitsniveau sinken“, empfiehlt Lärmschutzexperte Popp. „Bei Hauptverkehrsstraßen, auf denen heute 60 km/h gefahren wird, wäre zu prüfen, ob 50 km/h nicht auch genügen.“ Auf den Hamburger Autobahnabschnitten störten vor allem die wechselnden Geschwindigkeitsbegrenzungen, die immer wieder zum Bremsen und Beschleunigen führen – ein gleichmäßig fließender Fahrzeugstrom ist das Ziel von Verkehrsplanern und Lärmschützern.

Popp könnte sich vorstellen, Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit zu machen. „Höhere Geschwindigkeiten wären dann begründete Ausnahmen. Heute ist Autofahrern oft unklar, welche Geschwindigkeit gerade gefahren werden kann. Sie richten sich dann nach den anderen – und sind meist zu schnell.“ Im Sommer 2012 gab es eine Diskussion zum generellen Tempo 30 in deutschen Städten, ein entsprechender Vorstoß einiger Bundestagsabgeordneter erntete viel Kritik. Dabei sei oftmals ohne Fachwissen diskutiert worden, sagte jetzt Dr. Eckhart Heinrichs vom Berliner Verkehrsplanungsbüro Argus. Es hat in Berlin, wo der Verkehrsfluss bereits auf 15 Prozent des Hauptstraßennetzes auf 30 km/h abgebremst ist, und andernorts die Wirkung dieser Maßnahme untersucht.

„Auf vier von fünf Straßen hat die Geschwindigkeitsbegrenzung gewirkt“, berichtete Heinrichs, „der mittlere Lärmpegel sank um 1,2 bis 3,1 Dezibel.“ Ein Minus von drei dB ist schon beachtlich, der Verkehrslärm ist dann halbiert. Aber selbst die Anwohner der Straße mit der kaum vernehmlichen Absenkung um 1,2 dB hätten die Maßnahme begrüßt. Tempo 30 bringe etwas, ohne viel zu kosten, so der Verkehrsplaner. Allerdings sei es kein Allheilmittel, „an jedem Ort ist eine Abwägung erforderlich“. Zudem müsse noch intensiver als in der vorliegenden Studie untersucht werden, ob ein Teil der Fahrzeuge auf andere Straßen ausweiche und damit dort den Lärmpegel erhöhe.

Neben der Verkehrsberuhigung sollten die Autos selbst leiser werden, betonte Heinz Steven, unabhängiger Gutachter für Fahrzeugemissionen. Die heute geltenden Lärmgrenzwerte für Pkw seien 17 Jahre alt, eine weitere Absenkung sei zwar geplant, doch würde sie frühestens 2016 wirksam werden. „Seit den 1970er-Jahren ist der Geräuschgrenzwert bei Pkw von 82 dB in drei Stufen auf 74 dB abgesenkt worden. Gleichzeitig stiegen die Fahrleistungen erheblich; daraus ergibt sich ein Anstieg um knapp zwei dB.“ Rechnerisch bleibt ein deutliches Minus. Zahlreiche Untersuchungen hätten jedoch ergeben, „dass die Auswirkungen auf die Geräuschemissionen im realen Verkehr bei den Pkw deutlich geringer bis nicht nachweisbar sind“.

Die Grenzwertabsenkungen spiegelten sich nicht in der Realität wider, sagte Steven. Zwar seien die Antriebsgeräusche bei Pkw im realen Betrieb messbar leiser geworden, „allerdings nur in geringem Umfang im Vergleich zur Grenzwertabsenkung“. Dies liege auch daran, dass die Parameter der Prüfungen bei Typenzulassungen von neuen Fahrzeugmodellen mit der technischen Entwicklung nicht mitgehalten haben. Und die Rollgeräusche haben über die Jahrzehnte durch erhöhte Geschwindigkeiten auf breiteren Reifen sogar zugenommen, so Steven. Nach Angaben des Verbands der Automobilindustrie (VDA) stammt die Hälfte des Pkw-Lärms inzwischen von den Rollgeräuschen (s. Grafik), während der Antrieb 35 Prozent und Geschwindigkeitswechsel 15 Prozent beisteuern.

Steven hält die von der EU-Kommission geplante Grenzwert-Absenkung für Pkw auf 68 dB für wenig hilfreich, das neue Limit werde das Lärmniveau eines Durchschnitts-Pkw kaum senken, weil er heute schon relativ dicht an den Wert herankommt. Dieser nehme zu viel Rücksicht auf „Kleinserienfahrzeuge“, so Steven. Gemeint sind Sportwagen mit röhrenden Motoren. Er könne sich vorstellen, dass es künftig zwei Grenzwerte gibt, einen für die Masse und einen für schnelle Flitzer: „Dies würde es erlauben, den Grenzwert für die durchschnittliche Fahrzeugflotte und damit das allgemeine Lärmniveau zu senken.“

Bei den Lkw wurde der Lärmgrenzwert seit den 1970er-Jahren um elf dB gesenkt. Das habe, trotz eines noch stärkeren Anstiegs der Fahrleistungen als bei den Pkw, „immerhin Minderungen von drei bis sechs dB im realen Verkehr bewirkt“, sagte Steven. Im Gegensatz zum Pkw überwiegen hier die Antriebsgeräusche. Der VDA schreibt Motor, Getriebe und sonstiger Antriebstechnik 80 Prozent der Lärmemission zu.

Die größten Lkw dürfen mit einem Grenzwert von 80 dB stolze sechs dB mehr Lärm emittieren als Pkw. Und während sie vor Jahrzehnten fast nur auf Fernstraßen verkehrten, rollen sie heute vermehrt durch die Städte. Christian Popp: „Früher warteten sich Lastwagenfahrer durch einen Stau, weil sie sich scheuten, in eine Stadt auszuweichen, die ihnen fremd ist. Heute werden sie bei Staus automatisch von ihrem Lkw-Navi von den Autobahnen durch die Städte geleitet.“ Hamburg und andere Städte müssten darauf reagieren und „Lkw dort fahren lassen, wo sie am wenigsten stören“, sagt Popp. Er vermisst in der Hansestadt ein „Lkw-Führungskonzept“.

Ein bislang unterschätztes Problem seien Einzelgeräusche, betonte Heinrich Weyer vom Deutschen Institut für Luft- und Raumfahrttechnik. Tatsächlich kann ein einzelner Müllwagen (82 dB) oder der sportliche Antritt eines frisierten Motorrads (85 dB) lärmgeplagten Anwohnern den letzten verbliebenen Nerv rauben. Weyer: „Wir haben gerade die Wirkung von Einzelgeräuschen auf die Gesundheit untersucht und werden unsere Ergebnisse demnächst der Öffentlichkeit präsentieren. Einzelgeräusche spielen die maßgebliche Rolle und fallen stärker ins Gewicht als der mittlere Lärmpegel.“