Kommentar

Weihnachten sei für die Türkei "ohne Bedeutung", hatte der Anwalt des 17-jährigen Marco W. noch am Vortag düster orakelt. Nur einen Tag später war der schlaksige Uelzener frei.

Vielleicht fürchtete die türkische Justiz, über ihr könne eine Woge weihnachtlich aufgeheizter Solidaritätsadressen aus Deutschland zusammenschlagen - angesichts des schon viel zu lange inhaftierten, psychisch wohl längst angegriffenen Jungen. Bilder einer verzweifelten deutschen Familie - mit Tannenbaum, aber ohne Sohn - wären dem Ansehen der Türkei wenig zuträglich gewesen. Doch vielleicht hat auch die Rettungsmission des türkisch stämmigen Unternehmers Öger Wirkung gezeigt.

Jedenfalls hat die türkische Justiz, die einen Minderjährigen fast neun Monate lang für ein außer Kontrolle geratenes Petting inhaftierte, die ihre Verhandlungen öfter vertagte als abhielt, deren zuständiger Richter sich nicht einmal wegen Überforderung selbst ablösen durfte, mit Recht die Notbremse gezogen. Längst hatte sich der Fall zu einem Politikum mit unkalkulierbaren Schäden für das Image der Türkei und für ihre EU-Beitrittschancen emporgeschaukelt.

Dass Marco die junge Britin nicht vergewaltigt hat, dürfte feststehen. Inwieweit die amouröse Begegnung der beiden Teenager von gegenseitiger Freiwilligkeit getragen war oder ob sich Marco doch einer sexuellen Nötigung schuldig gemacht hat, wird nun in Ruhe weiter zu klären sein. Ein solcher Vorwurf wiegt auch hierzulande nicht leicht - selbst bei einem 17-Jährigen -, er dürfte allerdings kaum mit einem Dreivierteljahr Untersuchungshaft bestraft werden. Hier traten unverändert gravierende Unterschiede zwischen den Rechtskulturen der Türkei und der meisten EU-Staaten zutage.

Auffällig ist zudem, dass sich die monatelang hinausgezögerte Aussage des angeblichen Opfers plötzlich den wüsten Behauptungen seiner aufgebrachten Mutter anglich. Die allerdings zum Zeitpunkt der inkriminierten Tätlichkeiten sicher nicht zugegen war.

Man muss einräumen, dass der verbale Theaterdonner einiger deutscher Politiker im Fall Marco nicht sehr hilfreich war. Die Türken fühlten sich in ihrer Ehre und ihrer juristischen Unabhängigkeit attackiert. Eine Lösung wurde erst möglich, als stille Diplomatie anstelle von Vorwürfen und Drohungen trat. Die türkische Seite hat sich lange Zeit nicht mit Ruhm bekleckert. Man muss nun aber auch anerkennen, dass sie bereit war, ihre umstrittene Verfahrensweise zu ändern.