Was bedeutet Frankreichs Wahl für Deutschland und Europa? Der französische Politologe und Historiker Alfred Grosser wirft im Abendblatt einen Blick auf die kommende Entwicklung.

ABENDBLATT: Steht der neue Mann im Élysee-Palast für eine neue Ära in Frankreich?

GROSSER: Ja gewiss. Er gehört einer neuen Generation an. Wir haben in 26 Jahren nur zwei Präsidenten gehabt. Das ist eine lange Zeit. Sarkozy wird vieles tun, was Chirac nicht getan hat. Er will die Macht ausüben. Chirac wollte nur die Macht haben.

ABENDBLATT: Wie wird Sarkozys Reformkurs aussehen, zumal Frankreich als wenig reformfreudig gilt?

GROSSER: Das stimmt so nicht, vor allem die Sozialisten haben mehr liberalisiert als ihre Vorgänger und Nachfolger. Wir sind jetzt bei den schwierigen Punkten, einer davon ist die Europapolitik.

ABENDBLATT: Sarkozy will die EU-Verfassung zu einem Minivertrag schrumpfen. Bedeutet das weniger Europa?

GROSSER: Nein, keineswegs. Sein Vorschlag, in einem kurzen Vertrag nur die institutionellen Fragen zu regeln, ohne dass das Wort Verfassung fällt, entspricht ungefähr den Vorstellungen von Frau Merkel. Wahrscheinlich werden aber Großbritannien, Polen und die Tschechische Republik zu diesem Vorschlag Nein sagen.

ABENDBLATT: Frau Merkel hält Sarkozy für einen großen Europäer. Stimmen Sie zu?

GROSSER: Das hat Frau Merkel auch beim Abschied zu Chirac gesagt. Und Chirac ist gewiss kein großer Europäer gewesen. Er hat die EU-Verfassung nur ungenügend verteidigt. Das Nein bei dem Referendum war weitgehend gegen Chirac ausgesprochen worden. Jetzt muss man sehen, was Sarkozy von Europa hält. Am Wahlabend hat er etwas gesagt, was für Chirac furchtbar ist: "Frankreich wird jetzt wieder präsent in Europa sein." Das heißt, dass es unter Chirac nicht präsent war. Sarkozys erste Reise führt nach Berlin und Brüssel. Ob das Verhältnis nun herzlich wird, ist eine andere Frage. Handküsse wird es nicht mehr geben.

ABENDBLATT: Sarkozy hat sich unfreundlich über Deutschland geäußert. Hat das Konsequenzen?

GROSSER: Er hat sich nur einmal unfreundlich geäußert - und auch nicht unfreundlicher als Günter Grass -, als er Deutschland als Land der Lager und der SS bezeichnete. Ich glaube, dass er sogar zu viel Abstand von der Vergangenheit nehmen will, auch von der negativen französischen Vergangenheit. Er will Zukunftsbewusstsein, und das geht nur zusammen mit der Bundesrepublik.

ABENDBLATT: Wird sich Sarkozy wieder mehr Amerika zuwenden?

GROSSER: Nein, da ist er wie Frau Merkel: Man muss freundlich mit Amerika sein und darf unfreundlich sein mit dem amerikanischen Präsidenten. Das sind zwei sehr verschiedene Dinge.

ABENDBLATT: Was hat am Ende die Wahl entschieden?

GROSSER: Ausschlaggebend war, dass Royal wirkte, als sei sie unfähig, eine Präsidentin zu werden, die einen eigenen Willen hat. Sie hat viel zu oft gesagt: "Ich höre euch zu. Ich weiß, was ihr wollt." Aber sie hat nicht gesagt, was sie wollte. Frankreich braucht jetzt im Grunde eine Bindung des linken Konfliktpotenzials, etwa im Sinne einer Großen Koalition. Die Gefahr bei Sarkozy aber ist die Zusammenballung der Macht . Er wird eine Mehrheit im Parlament haben, der Premier wird sein Adjutant sein, und er herrscht über die Medien und alle anderen Institutionen.

ABENDBLATT: Was bedeutet die Niederlage für die Sozialisten?

GROSSER: Dass sie explodieren. Segolène war zwar eigenwillig, aber sie hat stets betont, dass die Sozialisten das Wort Sozialdemokratie hochhalten müssen. Das heißt, dass sie ein französisches Bad Godesberg brauchen.

ABENDBLATT: Was hat Chirac seinen Erben hinterlassen?

GROSSER: Ein Frankreich, in dem er wenig getan hat. Ein Frankreich, dass sich - in einer Art Selbstzerfleischung - über sich selbst beklagt und das enorme Probleme hat, die sein Präsident nicht hatte lösen können oder wollen. Neben dem Abbau der Arbeitslosigkeit muss Frankreich jetzt vor allem einen Ausgleich finden zwischen immer höheren Ausgaben und der Notwendigkeit, die Staatsschulden zu tilgen. Was beinahe unglaublich ist, ist, dass das Wort Chirac im Wahlkampf gar nicht gefallen ist. So, als sei gar niemand zwölf Jahre lang im Élysee gewesen.