Niederlande: Feuer in Schulen, Moscheen und Kirchen. Der Mord am Islam-Kritiker van Gogh hat eine Welle der Gewalt ausgelöst, die das Toleranz-Modell als Illusion entlarvt.

Amsterdam. Als er auf einer Straße in Amsterdam mit sieben Kugeln vom Fahrrad geschossen wurde, geschah genau das, was der niederländische Künstler und Provokateur Theo van Gogh vor einem Jahr prophezeit hatte: "Ich werde auf der Straße ermordet." Er, der bekannteste Kritiker des islamischen Fundamentalismus in seinem Land, hat immer gewußt, was er tat. Und er wußte wohl auch, was ihm eines Tages dafür blühen würde.

Doch an jenem Dienstag voriger Woche, dem 2. November, geschah mehr als nur der Mord an van Gogh, einem Urgroßneffen des großen Malers. Es war ein Tag, der den Holländern einmal mehr mit aller Wucht die Grenzen einer freien Gesellschaft vor Augen führte, das ganze Land in Alarmismus stürzte und die Gesellschaft aus einem scheinbaren Gleichgewicht brachte.

Der mutmaßliche Täter ist Mohammed B., ein Niederländer marokkanischer Herkunft. Die Staatsanwaltschaft erklärte, der Mörder habe dem Toten auch die Kehle durchgeschnitten (ein Symbol für Enthauptung), nachdem er ihn mit einem Schlachtermesser "wie einen Autoreifen" (so ein Tatzeuge) bearbeitet hatte. Ein Messer stak in seinem Bauch, daneben war ein fünf Seiten langer Brief befestigt, dessen Inhalt auf eine Tat mit radikal-islamistischem Motiv hinweist.

Seither eskaliert die Gewalt zwischen Einheimischen und muslimischen Zuwanderern in einer Weise, daß dem Finanzminister Gerrit Zalm schon das Wort vom "Krieg" entfuhr. 16 Brandanschläge gegen Kirchen, Moscheen und Schulen wurden in den letzten fünf Tagen verübt. Eine moslemische Schule in Uden brannte fast vollständig ab. Die Mauern waren mit Parolen wie "Scheißmarokkaner" beschmiert. Und das im Mutterland der Toleranz?

Moderate muslimische Gruppen verurteilten den Mord an van Gogh sowie die anschließende Gewalt gegen protestantische Kirchen ebenfalls scharf. Gleichzeitig baten sie um Polizeischutz für ihre eigenen Einrichtungen. Abgelehnt. Integrationsministerin Rita Verdonk: "Die Regierung kann nicht alle Moscheen schützen." Eine bisher unbekannte Pro-Al-Kaida-Gruppe hat sogar gedroht, Bombenanschläge in Holland durchzuführen.

Amsterdams Bürgermeister Job Cohen räumt ein: "Es herrschen Angst und Haß zwischen den Bevölkerungsgruppen, Angst und Haß zwischen Niederländern und Marokkanern."

Entlädt sich da etwas, was sich jahrzehntelang unter einem Deckel von Begriffen wie Integration und Toleranz aufgestaut hat?

Von den 16 Millionen Holländern sind mehr als zwei Millionen Ausländer, unter ihnen fast eine Million Muslime. Von allen Einwohnern unter 18 Jahren sind bereits mehr als die Hälfte Ausländer; in Amsterdam 56 Prozent, in Rotterdam 54 Prozent. Der häufigste männliche Vorname bei Neugeborenen in Amsterdam ist Mohammed.

In vielen Ghetto-ähnlichen Vierteln der großen Städte haben ausländische, zumeist marokkanische Jugendgangs das Sagen. Sie legen dabei eine immer größere Brutalität an den Tag. Baseballschläger, Messer und zunehmend auch Schußwaffen gehören zu ihrem Arsenal. Die Folge: Einheimische ziehen weg, und der Ausländeranteil steigt.

Als im Frühjahr die parlamentarische Kommission Integration ihren Bericht "Brücken bauen" über 30 Jahre Integrationspolitik vorlegte, stellten die Parteien von links bis rechts ernüchtert fest, daß die Integrationspolitik unter der Formel "Integration unter Beibehaltung der eigenen Identität" gescheitert sei. Die Unverbindlichkeit erwies sich für Migranten wie für die niederländische Gesellschaft als Irrweg.

Adjiedi Bakas, ein Einwanderungsexperte und Regierungsberater, sagt: "Wir haben nur eine Chance: daß endlich Schluß gemacht wird mit dem unterschiedslosen Hereinlassen von Ausländern. Das widerspricht allem gesunden Menschenverstand. Einwanderer müssen mit ihrer neuen Heimat kulturell kompatibel sein." Zu den Verlierern zählt Bakas vor allem Marokkaner. Bei ihnen sei nicht nur die Kriminalitätsrate höher als bei anderen Zuwanderern, sie seien auch oft Analphabeten.

Der Niederlande-Experte Bernd Müller, Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen für Europafragen in Berlin, spricht von einer "jahrhundertelang erprobten Gleichgültigkeit" der Holländer gegenüber anderen gesellschaftlichen Strömungen. "Man lebt aneinander vorbei, zeigt eher Desinteresse", sagte Müller der Katholischen Nachrichtenagentur. Das Konzept habe sich lange als sinnvoll erwiesen. Doch nun könne es nicht mehr funktionieren. Mit der Einwanderung marokkanischer Arbeitsmigranten, die neben einer eigenen Kultur auch eigene Rechtsvorstellungen mitgebracht hätten, sei eine Subkultur entstanden, "die sich dem Zugriff der Polizei in den Großstädten entzog".

Und nun, so Müller, entstehe unter dem Schlagwort "Null Toleranz!" eine Gegenkultur, die sich ausdrücklich gegen Political Correctness wende. "Wer beispielsweise öffentlich die Marokkaner beschimpft, gilt nicht mehr als rassistisch. Das wird akzeptiert."

Ministerpräsident Jan Peter Balkenende wollte das Wort vom "Krieg", das sein Finanzminister benutzt hatte, so nicht stehenlassen. Er spreche lieber von "Streit". Und: "Die Niederlande sind immer ein schönes Land gewesen, und wir werden die Spirale der Gewalt durchbrechen."

Doch nun deutet sich an, daß Holland obendrein auch zum Ziel des internationalen islamistischen Terrors werden könnte. Im Zusammenhang mit dem Mord an van Gogh wurden acht Nordafrikaner, die in Amsterdam wohnten, verhaftet. Sie stehen im Verdacht, daß sie einen Anschlag vorbereiteten. Auch wird nach einem Syrer gefahndet, der als ein Kopf eines Netzwerkes radikaler Moslems gilt. Der mutmaßliche van-Gogh-Mörder Mohammed B. gehört zum Bekanntenkreis dieser Männer, die wie Mohammed auch Kontakte zu der Terrortruppe Salafia Jihadia haben sollen. Sie werden vom Nachrichten- und Sicherheitsdienst AIVD überwacht. Doch der ist offenbar, wie sich herausstellte, unterwandert. So sind bereits zweimal geheime Berichte des AIVD in die Hände von Fundamentalisten gefallen. Als möglicher "Maulwurf" wurde ein 34jähriger Marokkaner verhaftet.

Van Gogh war, als ihn die Kugeln trafen, gerade auf dem Weg zur Montage seines Films "06/05". Das Thema: der Mord an dem rechtspopulistischen Politiker Pim Fortuyn, einem Freund van Goghs, der am 6. 5. 2002 getötet wurde. Und noch eine Zahlenkombination gibt zu denken: Der Terroranschlag in Madrid am 11. 3. dieses Jahres fand 911 Tage nach "9/11" (New York) statt, der Mord an van Gogh 911 Tage nach dem Mord an Fortuyn.

Van Gogh hatte Pläne, auszuwandern. Seiner Meinung nach war die Spirale der Gewalt im Land nicht mehr zu stoppen; Holland werde sich zu einem zweiten Belfast entwickeln, hat er einmal gesagt - mit brennenden Kirchen und Moscheen. Als der tote van Gogh unter einem Tuch noch auf der Straße lag, schrien jugendliche Marokkaner "Wir sind die Taliban." Und ein anderer rief: "Gut, daß der Gotteslästerer tot ist."