Bundespräsident Joachim Gauck verleiht seinem Staatsbesuch eine besonders emotionale Note. Er durchbricht sogar das Protokoll.

Jerusalem. Vor einem schlichten hölzernen Schreibpult steht der Bundespräsident an diesem heißen Dienstagmittag. Joachim Gauck wirkt äußerst konzentriert. Seine linke Hand ruht auf einem handgeschriebenen Manuskript. Mit der rechten Hand schreibt Gauck, er schreibt und schreibt. Eben erst hat der Bundespräsident das Mahnmal für die ermordeten Kinder besucht. Nun trägt er sich so ausführlich in das Gästebuch ein, dass einige aus seiner Entourage schon ungeduldig werden. Gauck aber lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, schon gar nicht an diesem Ort.

Durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wurde er am Vormittag geführt, dann setzte er Fuß vor Fuß im Dunkel des Mahnmals für die ermordeten Kinder, in dem vielfach spiegelnde Kerzen eindrucksvoll an das Schicksal der Opfer erinnern. Ein Name nach dem anderen wird hier verlesen. Ein Jahr, fünf oder acht Jahre wurden diese Kinder aus Russland, der Ukraine und Polen alt, als Deutsche sie umbrachten.

Mit diesen Eindrücken steht Joachim Gauck an dem Schreibpult aus hellem Holz, und er hat sich dafür entschieden, mehr auszudrücken, als es üblich ist. Er möchte nicht nur einen Gästebucheintrag loswerden. Es ist ein eigenwilliger individueller Akt, mit dem der Bundespräsident ein Zeichen setzen will. Die ihm von seinen Mitarbeitern vorgeschlagene Formel hat er zur Seite gelegt. Stattdessen formulierte Gauck eigenhändig Worte. Der Schluss- und Schlüsselsatz lautet: "Und steh zu dem Land, das hier derer gedenkt, die nicht leben durften."

+++ Staatsbesuch in Israel: Gauck setzt auf Emotionen +++

+++ Gauck beginnt Staatsbesuch in Israel +++

Es ist Joachim Gaucks erster Staatsbesuch und seine erste außereuropäische Reise. Das Ziel Israel ist mit Bedacht gewählt. Ebenso bewusst hatte das Bundespräsidialamt die Reise zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannt gegeben. Dies geschah, kurz nachdem Günter Grass mit einem Israel-kritischen "Gedicht" Wirbel ausgelöst hatte, ein Einreiseverbot nach Israel verhängt wurde und allerlei Stimmen verlangten, nun müsse sich der Bundespräsident zu Grass' Worten - besser gesagt: zu Grass' Wörtern - äußern. Gauck vermied im April ein schnelles Statement. Mit dem Schriftsteller verbindet ihn politisch wenig. Nun sagt Gauck: "Günter Grass hat seine persönliche Meinung geäußert. Das darf er. Ich stimme ihm ausdrücklich nicht zu."

Fundiert formuliert gibt er in Israel, wo über Grass noch immer diskutiert wird, noch eine Antwort. Seine Worte am Mahnmal für die ermordeten Kinder erweisen sich als eine Art Gegen-Grass. Gauck wendet sich in der zweiten Person an seine Adressaten, beginnt emotional und endet politisch. "Wenn du hier gewesen bist, sollst du wiederkommen", schreibt er mit schwarzer Kugelschreibermine in das Gästebuch. Die "Flut der Gefühle" über das Ausmaß des Bösen erwähnt er, benennt das Mitleiden, Trauern. "Namen der Täter, deutsche zumeist, Verursacher, Vollstrecker, auch Namen von Schreckensorten wirst du dir einprägen und wirst erschrecken vor dem brutalen Interesse von Herrenmenschen", schreibt er.

In seiner Rede beim Staatsbankett wird er am Abend sagen: "Als junger Mann, gerade erwachsen geworden, habe ich versucht, einen Zugang zur Schoah zu finden. Völlig fassungslos stand ich da mit einem Buch über den Nationalsozialismus und fand weder einen Gesprächspartner noch verständnisvolle Worte für mein Entsetzen. Heute noch - mit 72 - sind mir dieser Schmerz und dieses Schweigen in bedrückender Erinnerung." Er wird schildern, wie er in der "antizionistischen" DDR schließlich Wege fand, Israelis zu treffen. Und er sagt: "Wir stehen an Ihrer Seite, wenn andere die Sicherheit und das Existenzrecht des Staates Israel infrage stellen. Den friedliebenden Kräften reichen wir die Hand. Jenen aber, die Sie bedrohen, treten wir entschlossen entgegen."

Drei- oder viermal war Gauck nach 1989 in Israel. Kundig lässt er sich durch das Museum der Gedenkstätte Yad Vashem führen, entlang der Fotos und Filme, der Dokumente, der Überbleibsel der Opfer der Schoah, vorbei an Kämmen, Nagelfeilen, Parfümfläschchen.

Gauck präsentiert sich in Israel wie ein erfahrener Staatsmann, als habe er seit jeher rote Teppiche abgeschritten und an Kränzen innegehalten. Aber er durchbricht das Protokoll, bei der Gästebuch-Botschaft ebenso wie schon beim ersten Programmpunkt der Reise. Unbedingt wollte Gauck das Grab von Ignatz Bubis besuchen, dem früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Am Pfingstmontag, direkt nach der Ankunft am Flughafen Tel Aviv, ließ er sich zu Bubis' Grab bringen, ohne Fotografen, ohne Reporter. Hier ergriff Gauck die Hand seines Gastes Dieter Graumann, des heutigen Zentralratsvorsitzenden. "Das war ein emotionaler Moment für die Ewigkeit, für mich der Höhepunkt der Reise", sagte Graumann erkennbar berührt und politisch angetan.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Israels Sicherheit vor vier Jahren als Teil der "deutschen Staatsräson" bezeichnet. So weit indes will der sprachsensible Gauck nicht gehen. Auf Nachfrage sagt er später, ihr Begriff könne die Kanzlerin in "enorme Schwierigkeiten" bringen. Er meint einen möglichen Krieg. Dann fügt er freilich hinzu, Deutschland "sollte das allerletzte Land sein, das Israel seine Solidarität und Freundschaft aufkündigt".