Botschaft für den Bund: Rot-Grün ist möglich. Nach zwei Jahren Minderheitsregierung holen SPD und Grüne in NRW eine satte Mehrheit. Die CDU von Kanzlerin Merkel stürzt ins Bodenlose.

Kantersieg für Rot-Grün, historisches Debakel für die CDU, Triumph für die FDP: Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen haben sich Sozialdemokraten und Grüne die bisher fehlende Mehrheit eindeutig gesichert – ein dramatisches Warnsignal auch für Kanzlerin Angela Merkel (CDU). SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft kann nach Hochrechnungen nun auf stabiler Basis weiterregieren. Die CDU von Norbert Röttgen stürzt auf ihr Rekordtief an Rhein und Ruhr, der Spitzenkandidat tritt als Landeschef zurück.

Alles zur NRW-Wahl: Das sind die Spitzenkandidaten:
+++ Hannelore Kraft – Kind aus dem Revier mit Bodenhaftung +++
+++ Norbert Röttgen – Eher Klassenprimus als Kumpel +++
+++ Sylvia Löhrmann – Ministerin mit Spaß an schwierigen Aufgaben +++
+++ Christian Lindner – Schon mit 33 Jahren Star der Liberalen +++
+++ Joachim Paul – Freundlicher Oberpirat aus Neuss +++

Die im Bund schwer angeschlagene FDP mit ihrem Hoffnungsträger Christian Lindner kehrt noch deutlicher als vor einer Woche in Schleswig-Holstein in die Erfolgsspur zurück. Die Piraten ziehen zum vierten Mal in Folge in ein Landesparlament ein. Die Linke ist raus.

Die Abstimmung im bevölkerungsreichsten Bundesland mit 13,2 Millionen Wahlberechtigten ist dieses Jahr das wichtigste Signal vor der Bundestagswahl im Herbst 2013. Der Aufwind für die rot-grüne Opposition bei der „kleinen Bundestagswahl“ dürfte es Kanzlerin Merkel und ihrer schwarz-gelben Koalition noch schwerer machen – auch wenn sich im Bundesrat praktisch nichts ändert.

Kraft sagte: „Das ist ein klares Signal nach Berlin.“ Für Grünen-Chefin Claudia Roth ist Rot-Grün „möglich im Bund“ – auch Merkels Politik sei abgewählt worden. Die Forschungsgruppe Wahlen befand in ihrer Analyse, in NRW habe Rot-Grün gezeigt, dass trotz Konkurrenz durch die Piraten eine Mehrheit jenseits von Schwarz-Gelb möglich sei. Das Ergebnis sage aber „noch lange nichts darüber aus, wie die Bundestagswahl ausgeht“. Auch nach Ansicht Röttgens ist es nicht übertragbar: „Ich glaube, dass im Bund die Lage eine andere ist. Es sind zwei unterschiedliche Ebenen.“

In Schleswig-Holstein hatte es für SPD und Grünen zusammen noch nicht ganz gereicht, dort läuft es derzeit auf ein Dreierbündnis mit dem Südschleswigschen Wählerverband SSW hinaus. Nach Hochrechnungen von ARD und ZDF vom Sonntagabend (19.25) nähert sich die SPD in NRW mit 38,5 bis 38,9 Prozent wieder der 40-Prozent-Marke (2010: 34,5). Die CDU fällt mit 26,0 bis 26,3 Prozent um gut 8 Punkte und liegt deutlich unter ihrem damals schon schwächsten Ergebnis von 2010 (34,6) – es ist ihr zweitschlechtestes seit mehr als 60 Jahren in einem westdeutschen Flächenland. Die Grünen von Vize-Regierungschefin Sylvia Löhrmann schneiden mit 11,8 bis 11,9 Prozent in etwa so ab wie beim letzten Mal (12,1).

Der FDP gelingt ein ähnlicher Coup wie eine Woche zuvor in Kiel: Die vor kurzem noch abgeschriebene Partei erringt mit 8,3 bis 8,4 Prozent ihr zweites Erfolgserlebnis seit mehr als einem Jahr, diesmal sogar mit einer Steigerung um gut 1,5 Punkte (2010: 6,7). Ähnlich erfolgreich ist die noch junge Piratenpartei, die mit 7,8 bis 8,1 Prozent locker in den Landtag einzieht (2010: 1,6). Die Linke dagegen setzt ihren Abwärtstrend fort und fliegt mit 2,5 bis 2,6 Prozent nach nur zwei Jahren wieder aus dem Parlament (2010: 5,6).

Daraus ergibt sich laut ARD-Hochrechnung (Infratest dimap) folgende Sitzverteilung mit Überhangmandaten: SPD 92, CDU 62, Grüne 28, FDP 20 und Piraten 19. Rot-Grün hätte damit eine Mehrheit von 120 Mandaten gegen die 101 Sitze der Opposition. Die Wahlbeteiligung lag in der Nähe des niedrigen Werts von 2010 (59,3 Prozent). Nach der Wahl 2010 hatte Rot-Grün eine Stimme zur Mehrheit von 91 Mandaten gefehlt – Kraft bildete daraufhin im einstigen SPD-Stammland eine Minderheitsregierung. Im März scheiterte aber ihr Etat 2012 im Parlament. Darauf löste sich der Landtag erstmals in der Geschichte Nordrhein-Westfalens auf, weshalb schon jetzt gewählt werden musste.

Der Wahlkampf war stark fokussiert auf die Spitzenkandidaten Kraft und Röttgen. Während die SPD-Frau sich als engagierte Landesmutter präsentierte, versuchte der Kopfmensch Röttgen mit Themen wie Verschuldung und Schulpolitik zu punkten. Doch wie schon unter Jürgen Rüttgers 2010 lief der CDU der Wahlkampf aus dem Ruder. Wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale sagte Röttgen, dies sei „zu allererst meine persönliche Niederlage. Dieses Ergebnis führt ganz zwingend dazu, dass ich die Führung des Landesverbandes abgebe.“ Röttgen hatte im Wahlkampf bis zuletzt offen gelassen, ob er auch bei einer Niederlage in Düsseldorf Oppositionsführer wird. Zudem hatte er die NRW-Wahl zur Abstimmung über die Europapolitik von Kanzlerin Merkel erklärt – und sich dann revidiert. Röttgens Popularitätswerte lagen klar unter denen Krafts (ZDF: 29 zu 59 Prozent). Laut Forschungsgruppe Wahlen trauen die Wähler der CDU nur noch beim Thema Finanzen mehr zu als der SPD.

Krafts Erfolg könnte in der SPD die Debatte über die Kanzlerkandidatur nun neu anfachen. Der selbst dafür gehandelte SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sagte: „Bei einem so überzeugenden Ergebnis gehört eine Ministerpräsidentin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes zu denen, die für eine solche Kandidatur infrage kämen.“ Er fügte hinzu: „Aber sie hat es ausgeschlossen.“ Kraft betonte selbst: „Das ist eine Ehre. Aber ich habe meine Aufgabe hier.“

Die kriselnde FDP hat den Erfolg vor allem ihrem erst 33-jährigen Spitzenkandidaten Lindner zu verdanken. Er riss das Ruder in einem ganz auf ihn zugeschnittenen Ein-Mann-Wahlkampf herum und machte Röttgen klassische CDU-Themen wie den Erhalt des Gymnasiums streitig. Sein Erfolg verschafft dem angeschlagenen Bundesparteichef Philipp Rösler eine Verschnaufpause. Allerdings zählt Lindner – der im Dezember als Generalsekretär hingeworfen hatte – ebenso wie der Kieler Wahlsieger Wolfgang Kubicki zu Röslers Kontrahenten. Lindner wird zudem seit längerem als Anwärter auf den Vorsitz gehandelt.

Der erneute Misserfolg der Linken dürfte den seit längerem anhaltenden Machtkampf in der Partei noch verschärfen. Im Juni steht die Wahl der Parteispitze an – unklar ist, ob der frühere Linken-Chef Oskar Lafontaine als Retter in der Not antritt. Für die Piraten sagte der Vorsitzende Bernd Schlömer dem Berliner „Tagesspiegel“: „Die Piratenpartei ist nun endgültig im Parteiensystem angekommen.“

(Mit Material von dpa, dapd, Reuters)