Auf dem Leipziger Parteitag gibt sich Angela Merkel als wegweisende Europapolitikerin. Delegierte stimmen für Mindestlohn-Kompromiss.

Leipzig. Das Farbenspiel in der Leipziger Messehalle müsste einen Besucher ziemlich verwirren, wenn man nicht wüsste, bei welcher Partei man zu Gast ist. Das orangefarbene Podium ist vor blauen Stellwänden platziert, die roten Parteibuchstaben setzen sich von einem weißen Hintergrund ab. Eine Partei mit einem solchen Farbenmix wäre üblicherweise ein Fall für den Werbedesigner.

Aber die Vorsitzende der CDU mag es so bunt. Angela Merkel mag keine Festlegung auf eine zu eng gefasste Marschrichtung. Sie will lieber flexibel bleiben. Es sollen besser zu viele Farben im Parteispektrum zu finden sein als zu wenige, besser zu viele Positionen erlaubt sein als zu wenige. Die CDU des Parteitags 2011 hat nicht mehr allzu viel mit der Partei, die sich an diesem Ort zuletzt vor acht Jahren traf. 2003 war Merkel noch Oppositionsführerin. Ihr Blick auf die Märkte war noch von Vertrauen geprägt. Jetzt stellt sie ihre Partei auf das Projekt Weiterregieren ein - und auf Merkels dritte Amtszeit.

In Leipzig trifft sich eine CDU, die in diesem Jahr die Verlängerung der Atomlaufzeiten gestoppt und die Energiewende beschleunigt hat, die die Wehrpflicht abgeschafft hat und nun die Sinnhaftigkeit des Mindestlohns entdeckt. Merkels CDU des Jahres 2011 findet Krippenplätze gut und will Eltern zugleich Geld geben, die ihre Kleinkinder doch lieber zu Hause erziehen wollen. Es ist die große Umarmung aller Themen und aller Meinungen, die Merkel vollzieht, als sie in der Leipziger Messehalle ihre Rede hält. Es ist eine Rede, in der Worte wie Liebe und Zuneigung fallen. Und eine Rede, die die berührten Delegierten am Ende mit minutenlangem Applaus würdigen. Diese inhaltlich so bunte, offene und zu Kehrtwenden allzeit bereite CDU von 2011 scheint offenbar allen zu gefallen.

Und doch fällt eines besonders auf - die Bundeskanzlerin selbst ist es, die misstrauischer geworden ist. Den Finanzmärkten will sie klare Regeln setzen, eine Finanztransaktionssteuer einführen - notfalls nur in der Euro-Zone. Die Finanzwirtschaft habe Dienerin der sozialen Marktwirtschaft zu sein, sagt die CDU-Chefin. Wer die Regeln des europäischen Stabilitätspaktes verletzte, müsse mit automatischen Sanktionen und Klagen beim Europäischen Gerichtshof rechnen. "Das heißt nicht weniger Europa, das heißt mehr Europa", stellt Merkel klar und entwirft ein europäisches Bild, das von seinem Betrachter einen neuen Blickwinkel abverlangt. Man brauche ein neues Verständnis für eine gemeinsame Verantwortung. Die Sorgen eines Landes seien die Sorgen der 27 EU-Staaten.

"Wir alle sind Teil einer europäischen Innenpolitik", sagt die Kanzlerin. Doch auch hier wird das merkelsche Misstrauen sichtbar. Überall gebe es Verhaltensweisen, die zeigten, dass die heutige Generation auf Kosten der Zukunft lebe. "Überall stoßen wir auf ein Denken, dass kein Morgen kennt", kritisiert Merkel das bisherige Regierungshandeln in Europa. Die Delegierten werden Zeugen, wie Merkel die CDU als leidenschaftliche Europapartei positionieren will. Sie hören, wie Merkel daran erinnert, dass die CDU nicht nur als Alternative zum Kommunismus, sondern auch gegen "die Versumpfung des Kapitalismus" gegründet worden sei. Das mache die CDU zur "zentralen Volkspartei der Mitte", die ihre Positionen aber immer wieder überprüfen müsse - auch wenn Kompass und Wertefundament gleichbleiben sollen.

Manch einem geht das zu weit. Der Vorsitzende der Unions-Mittelstandsvereinigung, Josef Schlarmann, hält wenig vom momentanen CDU-Kurs. Der Partei werde nicht mehr die Wirtschaftskompetenz von früher zugetraut, schimpft er nach Merkels Rede. Es sei ein "strategischer Fehler" gewesen, eine Debatte über den Mindestlohn anzufangen. Mit dem am Sonntagabend gefundenen Kompromiss sei er allerdings "sehr zufrieden".

Dabei ist in Leipzig ein langer Abend des Streits befürchtet worden: ein Streit über Gerechtigkeit für Arbeitnehmer, über das Soziale der Marktwirtschaft, über die Frage, ob die Politik die Wirtschaft zwingen muss, eine Lohnuntergrenze einzuführen. Der Kompromiss, eine "allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze" in den Bereichen einzuführen, in denen bislang kein tariflich festgelegter Lohn existiert, wurde gestern Abend auf dem Bundesparteitag mit großer Mehrheit angenommen. Von den etwa 1000 Delegierten gab es bei acht Enthaltungen nur neun Gegenstimmen. Die Höhe des Lohns soll eine unabhängige Kommission von Arbeitnehmern und Arbeitgebern festlegen, die sich an den bereits existierenden Branchen-Mindestlöhnen und nicht mehr - wie ursprünglich geplant - an der Zeitarbeit orientiert. Damit eröffnet sich ein Stundenlohn-Korridor von etwa 6,50 bis 13 Euro. Ein Kompromiss, der den Arbeitnehmerflügel genauso zufriedenstellt wie die Ordnungspolitiker des Wirtschaftsflügels.

Da ist sie wieder, die CDU, die alle Flügel an einen Tisch bringt und Streit vermeidet. So gefällt der Bundeskanzlerin ihre flexible Volkspartei.