NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im Abendblatt-Interview über die Gefahren der Energiewende und die Zukunft der SPD.

Düsseldorf. Sie regiert mit den Grünen in einer Minderheitsregierung - und amtiert in diesem Halbjahr als Bundesratspräsidentin. Hannelore Kraft macht im Abendblatt-Interview deutlich, dass die Zustimmung der Länder zur Energiewende der Bundesregierung noch nicht gesichert ist. Die Pläne ihres Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel zur Reform der SPD sieht die Ministerpräsidentin eher skeptisch.

Hamburger Abendblatt: Frau Ministerpräsidentin, was hat Düsseldorf, was Hamburg nicht hat?

Hannelore Kraft: Ich wohne nicht in Düsseldorf, ich bin im Ruhrgebiet geboren und groß geworden, bin also eher eine Ruhrgebietsfrau.

Sie können auch das Ruhrgebiet mit Hamburg vergleichen.

Kraft: Das Ruhrgebiet ist bunt und offen. Hamburg hat zusätzlich viel Wind. (lacht)

Gibt es etwas, das Sie von Olaf Scholz lernen können?

Kraft: In der SPD lernen wir alle voneinander. Ich habe mit Olaf viele Übereinstimmungen. Uns ist wichtig, dass die Wirtschaft eine gute Basis hat in unserem Land.

Sie werden beide auch als mögliche Kanzlerkandidaten gehandelt ...

Kraft: Ich habe einen klaren Fokus auf Nordrhein-Westfalen. Wir haben hier eine Minderheitsregierung. Die nächsten Wahlen, wann immer sie stattfinden, möchte ich gewinnen.

Scholz schließt inzwischen aus, dass er 2013 gegen Angela Merkel antritt. Sie auch?

Kraft: Wir sind überhaupt noch nicht bei der Kanzlerkandidatur. Das werden wir alles in Ruhe im nächsten Jahr überlegen.

Sie schließen also nicht aus, die Kanzlerin herauszufordern.

Kraft: Ich sage doch: Mein Fokus liegt auf Nordrhein-Westfalen.

Was halten Sie von der Idee, den nächsten SPD-Kanzlerkandidaten in einer Vorwahl nach amerikanischem Vorbild zu bestimmen?

Kraft: Wir sind dabei, das in der Partei zu diskutieren. Es sollte nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein, eine Vorwahl möglich zu machen. Sie sollte aber nicht zwingend werden. Wir müssen flexibel bleiben.

Stößt man Mitglieder vor den Kopf, wenn man die Kandidatenkür auch Nichtmitgliedern überlässt?

Kraft: Es ist wichtig, die Türen weit aufzumachen. Es ist aber auch wichtig, unsere Mitgliedschaft zu stärken. Wer SPD-Mitglied ist, erwartet zu Recht einen Mehrwert.

Die letzte Mitgliederbefragung der SPD endete mit einem Kanzlerkandidaten Scharping ...

Kraft: Das zeigt, dass es immer auf die jeweilige Situation ankommt.

In den Umfragen liegen Steinmeier und Steinbrück vorn - und Gabriel weit hinten. Nur Momentaufnahmen?

Kraft: Umfragen sind immer Momentaufnahmen. Fest steht: Die SPD hat viele gute Kandidaten.

In Baden-Württemberg sind die Sozialdemokraten jetzt Juniorpartner der Grünen. Funktioniert das auch im Bund?

Kraft: Wir gehen mit dem Wahlausgang in Baden-Württemberg gelassen um. Das ist eine Sondersituation gewesen. Auf der Bundesebene werden wir so stark, dass sich diese Frage nicht stellt.

Wie will die SPD den zweiten Platz hinter der Union behaupten?

Kraft: Wir wollen nicht Platz zwei verteidigen. Wir wollen den Spitzenplatz im Parteiensystem zurückholen.

Und zwar wie?

Kraft: Wir reden nicht nur über die Parteiorganisation, sondern arbeiten auch inhaltlich sehr hart. Wie setzen wir gute Arbeit um, bekämpfen Lohndumping und die Ausweitung von Mini-Jobs? Wie sichern wir den Wirtschaftsstandort und damit Arbeitsplätze? Wie bauen wir unser Steuersystem gerechter auf? Wie machen wir das Gesundheitswesen mit einer Bürgerversicherung zukunftsfest? Das sind die Fragen, für die sich die Menschen interessieren. Mit dem Bundesparteitag im Dezember werden wir überzeugende Antworten geben.

Tatsächlich wissen immer weniger, wofür die SPD eigentlich steht.

Kraft: Es ist schwer, als Opposition durchzudringen. Und wir hatten mit Stuttgart 21 oder der Atomkatastrophe von Fukushima in den vergangenen Monaten Megathemen, die eher bei den Grünen eingezahlt haben. Aber die sozialen und wirtschaftlichen Fragen werden wieder in den Vordergrund treten.

Hilft der SPD eine Migrantenquote?

Kraft: Wir haben ja auch eine Frauenquote. Und die hat dazu geführt, dass Frauen in Führungspositionen in der SPD zahlreicher vorhanden sind als in anderen Parteien. Das muss man einfach mal zur Kenntnis nehmen. Jetzt wollen wir ein klares Signal setzen, dass Migranten in der SPD herzlich willkommen sind.

Warum wählen die Sozialdemokraten nicht einfach ihre Besten in die Führungsgremien?

Kraft: Die Migrantenquote ist ein wichtiges Symbol ...

... für Ihr schlechtes Gewissen im Fall Sarrazin?

Kraft: Unsinn. Wir wollen Migranten einladen, in der SPD mitzuwirken - bis in die Spitze der Partei.

Wie groß ist Ihre Begeisterung über das Führungsduo Gabriel/Nahles?

Kraft: Wir arbeiten in der gesamten Spitze vertrauensvoll zusammen. Die Kakofonie gegenseitiger öffentlicher Kritik aus früheren Zeiten ist beendet. Aber es gibt nichts, was man nicht verbessern könnte.

Woran denken Sie?

Kraft: Das klären wir intern.

In der Energiepolitik sind inzwischen alle Parteien auf die Linie der Grünen eingeschwenkt ...

Kraft: In der Energiepolitik gibt es noch genügend Unterscheidungsmerkmale. Vor allem die Regierungskoalition ist sich offenkundig nicht einig. Es ist bemerkenswert, wie die FDP versucht, sich einen schlanken Fuß zu machen. Ich frage mich, wie lange die Kanzlerin sich das bieten lässt.

Kann die Kanzlerin auf die Stimmen der SPD zählen?

Kraft: Der Atomausstieg muss unumkehrbar sein. Mit dem Stufenplan sind wir auf einem guten Weg, aber wir sind noch nicht am Ziel. Es sind noch viele Punkte zu klären, bevor die SPD in Bundestag und Bundesrat zustimmen kann.

Nämlich welche?

Kraft: Wir sprechen über acht Gesetze. Alle Länder sind sich einig, dass es auch technologisch falsch wäre, ein Atomkraftwerk als Kaltreserve auf Stand-by zu halten. Auch ein fossiles Kraftwerk kann Stromversorgungsengpässe ausgleichen. Die Kanzlerin hat zugesagt, dass die Bundesnetzagentur die Frage der Kaltreserve ergebnisoffen prüft. Besonders wichtig ist für die Länder ein neues Gesetz zur besseren Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung.

Welche Rolle soll der Bundesrat dabei spielen?

Kraft: Eine formale Beteiligung reicht uns nicht. Wenn die Kanzlerin die Unterstützung der Länder will, müssen Änderungen im Bundesratsverfahren möglich sein. Ich erwarte, dass offene Fragen im Vermittlungsausschuss geklärt werden.

Was bedeutet der beschleunigte Atomausstieg für den Industriestandort Deutschland?

Kraft: Die Energiewende ist eine große Chance. Für uns ist Klimaschutz ein Fortschrittsmotor. Aber wir müssen alle Wirtschaft und Arbeitsplätze im Blick behalten. Es dürfen keine Versorgungsengpässe auftreten, und Strom muss für Bürger und Unternehmen bezahlbar bleiben. Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Unternehmen - etwa Alu, Stahl, Chemie - gefährden, könnten sie ins Ausland abwandern.

Für solche Unternehmen sind Stromsubventionen vorgesehen - für Geringverdiener nicht. Ist das gerecht?

Kraft: Niemand weiß, wie weit die Strompreise steigen werden. Wir dürfen diejenigen, die wenig verdienen, nicht überfordern.

Brauchen wir Billig-Strom für Arme?

Kraft: Das ist überlegenswert. Sinnvoll könnte auch sein, den Erwerb energiesparender Geräte mit gezielten Kaufzuschüssen für Niedrigverdiener zu fördern.

Sind Sie bereit, die Suche nach einem Atomendlager auf Nordrhein-Westfalen auszuweiten?

Kraft: Wir haben nicht die erforderlichen Gesteinsschichten.

Das sagen die Bayern auch immer.

Kraft: Wir brauchen eine ergebnisoffene Suche - aber am Ende muss sie sich auf die Standorte konzentrieren, die die größte Sicherheit bieten.