Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts debattieren Politiker und Verbände über Konsequenzen. Kommt Generalrevision?

Berlin. Die Bundesregierung muss die Regelsätze für alle Hartz-IV-Empfänger neu berechnen und möglicherweise deutlich höhere Sozialausgaben einplanen. Das ist die Konsequenz aus dem mit Spannung erwarteten Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das gestern entschieden hat, dass die geltenden Hartz-IV-Regelsätze gegen das Grundgesetz verstoßen. Nach dem von Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier verkündeten Urteil genügen die Regelungen nicht dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Artikel 1 des Grundgesetzes. Außerdem verstoßen sie gegen das in der Verfassung garantierte Sozialstaatsprinzip, hieß es zur Begründung. Die Leistungen seien nicht korrekt ermittelt worden, erklärte Papier.

Besonders für die 1,7 Millionen Kinder in den 6,5 Millionen Hartz-IV-Familien könnte es in der Folge mehr Geld geben. Die Bundesregierung sagte eine rasche Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze zu, ließ aber offen, ob Bezieher von Arbeitslosengeld II nun generell höhere Leistungen erwarten können. Das Gericht hatte die Höhe der Regelsätze nicht beanstandet, sondern lediglich die Form, in der sie ermittelt werden.

Nach Ansicht des Verfassungsgerichts ist das zur Bedarfsermittlung von Hartz-IV-Empfängern gewählte "Statistikmodell" zwar ein geeignetes Berechnungsverfahren. Allerdings sei davon in der Praxis immer wieder abgewichen worden. So sei die Koppelung an den aktuellen Rentenwert sachwidrig. Das Richterkollegium bemängelte weiter, dass ein kinderspezifischer Bedarf überhaupt nicht ermittelt werde. Die Festsetzung des Sozialgelds für Kinder auf 60 Prozent der Erwachsenen und damit 215 Euro beruhe auf keiner vertretbaren Methode zur Bestimmung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dies umfasse neben der "physischen Existenz" auch ein "Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben". Für unabweisbare besondere Notwendigkeiten, etwa Kleidung in Übergröße oder Klassenfahrten, sei eine Härtefallklausel erforderlich. "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen", monierten die Richter.

Das Urteil wurde allgemein begrüßt. Sozialverbände, Gewerkschaften und Opposition sprachen von einer "schallenden Ohrfeige" für Berlin. Sie gehen davon aus, dass die Regelsätze steigen. Tatsächlich ist die Berechnungsbasis noch von der rot-grünen Bundesregierung eingeführt worden. Das Gericht forderte den Gesetzgeber bis zum 31. Dezember. Erfolgreich geklagt hatten drei Familien aus Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen.

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sprach von einem "bahnbrechenden Urteil". Der in der bisherigen Regelung vernachlässigte Bereich von Bildung und Schulbedarf müsse jetzt in den Vordergrund rücken. Familienministerin Kristina Köhler (CDU) sagte, die Regierung werde "schnellstmöglich" darangehen, die Vorgaben umzusetzen. Was die mögliche Belastung des Haushalts betreffe, so gab sich FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger optimistisch: Andere Koalitionsprojekte wie Steuerentlastungen würden dadurch nicht gefährdet, vermutete sie.

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) rief nach einer Grundsatzreform. "Hartz IV war der größte Murks seit der deutschen Einheit", sagte Seehofer in München.

Die Kommunalverbände forderten unterdessen die strikte Einhaltung des Lohnabstandsgebots. Bereits heute gebe es vielfältige Konstellationen, bei denen kein Anreiz zur Arbeitsaufnahme bestehe, da der Lohn unter oder nur wenig über den Hartz-IV-Leistungen liege. Ähnlich äußerte sich auch der Vorsitzende der Mittelstandvereinigung der Union, Josef Schlarmann:"Die Regelleistungen dürfen nicht erhöht werden. Dies würde nur dazu führen, dass sich weitere Menschen vom Arbeitsmarkt zurückziehen, weil sich Arbeit für sie dann nicht mehr lohnt." Ulrike Mascher, die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, forderte zur Gegenfinanzierung der höheren Hartz-IV-Leistungen die rasche Einführung einer Finanztransaktionssteuer und die Wiederbelebung der Vermögenssteuer. Mascher warnte zudem energisch vor der Fortsetzung der Missbrauchsdiskussion bei Hartz IV.