Ob Moritz Bleibtreu, Richard David Precht oder Peter Sloterdijk – einige Prominente outen sich als Wahlverweigerer. Das soll sie interessant machen. Doch vor allem ist es peinlich.

Hamburg. Es ist genau eine Wahl her, da löste Friedrich Küppersbusch, das Enfant terrible des Politjournalismus, eine Welle der Empörung aus. In einem Filmchen hatte er Prominente, darunter „Tagesschau“-Sprecher Jan Hofer, etwas Ungeheuerliches erklären lassen: Sie forderten die Deutschen zum Boykott der Bundestagswahl am 27. September 2009 auf: „Geh nicht hin.“ Zwar war der Shitstorm noch nicht erfunden, aber empörte Deutsche riefen zum Boykott der „Tagesschau“ auf, Hofer musste an die 1000 Mails beantworten. Wenig später kam die Auflösung im Teil 2. Das Filmchen war eine Provokation mit einer klaren Botschaft gegen Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit. Küppersbusch brachte es schön auf den Punkt: Wenn wir eine Botschaft haben, dann die: Was immer Sie am 27. September tun, tun Sie es nicht aus Versehen.“

Heute würde das Echo auf eine solche Provokation vermutlich anders ausfallen. Inzwischen scheinen es einige geradezu „hip“ zu finden, zu der wachsenden Gemeinde der Nichtwähler zu gehören: Moritz Bleibtreu etwa, Werbefigur für McDonald’s und Buddy des rappenden Hetzers Bushido, gestand der „Gala“: „Ich habe mich nie politisch engagiert und war noch nie wählen, da mich die Politik noch nie überzeugen konnte. Ganz egal, von welcher Couleur sie ausgeübt wird.“ Wobei Geständnis das falsche Wort ist; eher ging es dem Hamburger offenbar um eine Korrektur seines Images hin zum bösen Buben: „Ich war in meinem öffentlichen Leben noch nie sozial und gesellschaftlich engagiert!“ Mit solchen Aussagen schockt man heute vermutlich nicht einmal mehr die ältesten Leserinnen unter den Trockenhauben. Nichtwählen ist sozial längst akzeptiert. Bei der vergangenen Wahl blieben drei von zehn Deutschen (29,2 Prozent) zu Hause. Die Wahlmüdigkeit hat sich in Deutschland dramatisch zugespitzt – und das in einem Ausmaß, das in den Industriestaaten – abgesehen von Portugal – einmalig ist. Noch 1972 wollten 91,1 Prozent „Willy wählen“ oder Barzel statt Brandt siegen sehen. Vor 15 Jahren gaben immerhin 82,2 Prozent ihre Stimme bei der Bundestagswahl ab und ließen Gerhard Schröder auf Helmut Kohl folgen.

Bei der Wahl am 22. September könnte nun die Wahlbeteiligung erstmals unter die Grenze von 70 Prozent rutschen. Besonders schlimm findet das die Union nicht, die schon bei der vergangenen Wahl auf eine „asymmetrische Demobilisierung“ setzt – auf Deutsch lautet das Ziel, möglichst viele Sympathisanten der Sozialdemokratie von den Urnen festzuhalten. Merkels Wahlsieg 2009 bestand darin, nur knapp zwei Millionen Zweitstimmen zu verlieren, während die SPD fast 6,3 Millionen Stimmen einbüßte. Triumphe sind eben relativ, auch Nichtwähler wählen. Auch 2013 geht die Kanzlerin einem zugespitzten Wahlkampf aus dem Weg, sie positioniert sich kaum und lässt die Angriffe der Opposition im luftleeren Raum verpuffen. Für die Wahlbeteiligung lässt das nicht viel erwarten.

Deutschlands Intellektuelle finden nichts dabei. Sie halten es für den Ausweis ihrer eigenen Brillanz, auf Berufspolitiker mit Verachtung herabzublicken, und Wahlmüdigkeit für den Beweis der eigenen Wachheit, es gibt einen Hochmut vor der Wahl.

„Handelsblatt“-Herausgeber Gabor Steingart etwa erfreut sich seit Langem an den Tantiemen für das Buch „Die Machtfrage – Ansichten eines Nichtwählers“. Richard David Precht, der in seinen Talkshows und Büchern vieles weiß, vor allem alles besser weiß, hat sich in der „Zeit“ zum Thema eingelassen und findet die „Wahl zwischen Wählen oder Nichtwählen“ nicht wirklich wichtig. Auf ein paar Zeilen versammelt er viele Fremdwörter und Ratschläge, gepaart mit Kritik an den Parteien, die „primär Selbsterhaltungssysteme“ sind. Auch viele andere Antworten vermeintlich prominenter Stimmen in der Wochenzeitung lassen an der kulturellen und intellektuellen Elite Zweifel aufkommen. Durs Grünbein, immerhin Georg-Büchner-Preisträger, schwurbelt „aus einer Bucht im Mittelmeer“ über die erzwungene Solidarität unter uns Wahlmüden. Der Wahlitaliener sollte vielleicht besser vor italienischen Verhältnissen warnen. Die Publizistin Amelie Fried wiederum denkt darüber nach, „diesmal nicht zu wählen – was ja auch ein Statement wäre“. Das Nichtstun als Großtat! Immerhin widerstrebt es ihr als „geübte Demokratin“. Der Theaterregisseur Sebastian Hartmann adelt seine Haltung mit dem Satz: „Nichtwählen bedeutet für mich die Suche nach einem Vertrauen, welches ich gerade nicht besitze“, der Schriftsteller Maxim Biller sieht das Land „intellektuell, kulturell und politisch“ rein formal „auf dem Stand der vergehenden Spät-DDR“, der guten Thea Dorn fällt es schwer, sich „in dieser Parteiödnis als Wegweiserin“ zu versuchen. Der Vergleich zur DDR, deren Wahlen ja gerade alternativlos waren, ist entweder saudumm oder einfach degoutant.

Selbst Peter Sloterdijk, Deutschland Vorzeige-Philosoph, mag sich nicht zu einem Plädoyer für die Stimmabgabe durchringen: Weil keine Partei in seinen Augen eine schlüssige Antwort auf das „finanzpolitische Wahnsystem“ bereithält, sei für einen „gefahrenbewussten Beobachter im Augenblick“ schlechthin keine zu wählen. Kurz vorher wusste der Welterklärer nicht einmal, wann überhaupt gewählt wird.

In ihrer Ablehnung der Parteiendemokratie sind sich Sloterdijk und Precht ausnahmsweise einig. Ansonsten behaken und beschimpfen sie sich wie weiland Herbert Wehner und Franz Josef Strauß. Nachdem Sloterdijk den ZDF-Sendeplatz an Precht verlor, ätzte er, Prechts Klientel gleiche „eher der von André Rieu, den hören auch vor allem Damen über 50 in spätidealistischer Stimmung“.

In ihrem Hochmut eint beide die Eitelkeit – wie die anderen Nichtwähler, die vom hohen wie bequemen Ross Parteischelte, Demokratieverdrossenheit und eigene Überheblichkeit zu einem bunten Cocktail vermischen. Der „Spiegel“ brachte es in dieser Woche auf dem Punkt. Die Hochmütigen „kommen im Gewand des Philosophen daher, verbringen ihre Zeit vornehmlich in Fernsehstudios und tragen ihre Hemden extrem weit offen.“

Mut bedarf es nicht, anno 2013 ein Wahlverweigerer zu sein. Ganz im Gegenteil: Es ist in unübersichtlichen Zeiten einfacher, wortgewaltig etwas niederzumähen, als mit konstruktiver Kritik aufzubauen. Sich über Politiker lustig zu machen, sie korrupt, borniert oder inkompetent zu finden ist billig. Es sichert billigen Applaus. Sie als hart arbeitende, kluge wie integre Persönlichkeiten zu verteidigen gilt im besten Fall als spießig, im wahrscheinlicheren als naiv. Es ist lange keine Kunst mehr, dagegen zu sein.

Es könnte aber wieder eine werden, dafür zu sein. Natürlich kann man die Bekenntnisse vergangener Zeiten vormodern finden. Die ellenlangen Solidaritätsadressen der Künstler an die SPD oder die Hirtenworte der Bischöfe mit der versteckten Unterstützung der Union waren immer auch Teil des Wahlkampfkolorits. Aber ein politisches Outing gehörte zum guten Ton; eine Meinung hatte man und man vertrat sie, es gab eine Lust am Streit; und alle einte der Minimalkonsens, eben auf einer Seite zu stehen, nicht abseits. Man konnte sich noch so wüst streiten, die moralische Pflicht zur Wahl blieb unumstritten.

Politik bekam so einen Ort im Leben der Menschen, die Wahlen galten als Hochamt der Demokratie. Die Staatsbürger streiften den guten Sonntagsanzug an, streiften das beste Kleid über, und die Kinder an der Hand betraten das Wahllokal ehrfürchtig. Was eben noch Grundschule war, veränderte sich an den Wahlsonntagen zwischen 8 und 18 Uhr in das Hohe Haus der Demokratie. Inzwischen halten viele ein Wahllokal eher für ein Relikt der Vergangenheit. Statt über Wahlbeteiligung debattieren wir allen Ernstes über die Barrierefreiheit der Wahllokale.

Nur, welche Barrieren sind das Problem? Die Stufen am Gebäude oder die selbst errichteten Mauern im Kopf? Man kann die Langeweile im Wahlkampf bedauern, man könnte aber auch kontroverse Themen in die Debatte bringen. Man kann das ganze Parteiensystem verlachen, man könnte sich aber auch zum Besseren engagieren. Man kann aus der Zuschauerloge Politik das Schurkenstück verreißen, man könnte sich aber auch einmal selbst auf die Bühne wagen. Der Gang ins Wahllokal wäre der erste Schritt.