Der gebürtige Schweizer Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar nimmt erstmals an einer Bundestagswahl teil. Warum er Deutscher wurde

Hamburg . Einbürgerungstest: bestanden. Deutsche Sprachkenntnisse: nachgewiesen. Alle anderen Bedingungen: erfüllt. Und so bin ich nun Deutscher. Am Sonntag darf ich das erste Mal die Person und jene Partei wählen, die meine Rechte im Bundestag vertreten sollen. Klingt für einen Schweizer noch etwas gewöhnungsbedürftig. Ist aber dennoch ein schönes Gefühl, gleich zu sein unter Gleichen mit allen Rechten, aber auch allen Pflichten. Nicht nur Steuern zahlen zu müssen, sondern auch über deren Verwendung mitbestimmen zu dürfen – zumindest indirekt durch die Wahl der Bundestagsabgeordneten.

Warum ich als Schweizer Deutscher werden wollte? Weil ich seit über 20 Jahren in Deutschland lebe und ungebrochen an dieses Land glaube, mehr noch an seine Menschen. Selbst für einen Eidgenossen ist Deutschland ein wunderbares Land. Vielleicht gibt es etwas weniger Demokratie als in Helvetien mit seinen direkten Volksinitiativen und Referenden und der eigenen Steuerhoheit von Gemeinden und Kantonen. Dafür aber besteht in Deutschland ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Rechtsstaat, Gerechtigkeit und damit den Sozialstaat.

Ich wollte Deutscher werden, weil Deutsch meine Muttersprache ist, selbst wenn ich nur Dialekt spreche. Weil die deutsche Kultur mein Weltbild prägt(e). Weil ich mittlerweile denke und handle wie ein Deutscher. Und weil ich endlich auch einmal die Chance haben möchte, dass mein Team Fußballweltmeister wird.

Vor allem aber will ich als Deutscher meine Bürgerrechte nutzen und mich politisch einbringen in die deutsche Gesellschaft. Ich will gleichberechtigt mitreden, wenn es um die Zukunft Deutschlands geht und nicht stimmlos bleiben, wenn es gilt, kluge Lösungen für kommende Herausforderungen mehrheitsfähig zu machen.

Ich will meine Stimme der Partei geben, die dafür sorgt, dass mein Land die besten Jahre nicht hinter, sondern vor sich hat und dafür, dass es unseren Kindeskindern hierzulande nicht schlechter, sondern besser als uns gehen wird. Alles andere wäre eine Kapitulation vor der Zukunft. Das haben kommende Generationen nicht verdient. Deshalb müssen wir heute jene Kandidat(inn)en in den Bundestag wählen, die für eine offene, freiheitliche und erneuerungsfähige Gesellschaft eintreten. Sie sollen sich nicht anmaßen zu wissen, was richtig und falsch ist. Sondern dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich in die Hand nehmen, um ohne Bevormundung und Zukunftsangst mutig das zu tun, was sie am liebsten machen und am besten können.

Aus dem kranken Mann Europas ist ein Motor der Weltwirtschaft geworden

Welches Potenzial Deutschland hat, zeigt ein Blick auf die Statistik. Aus dem kranken Mann Europas der Jahrhundertwende ist ein Motor der Weltwirtschaft geworden. Die Industrie ist international in herausragendem Maße wettbewerbsfähig. Das sorgt für steigende Umsätze und damit stabile Beschäftigungsverhältnisse. Während in der übrigen Euro-Zone viele Menschen ohne Job sind und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit erschreckend hoch ist, bricht hierzulande die Beschäftigung alle bisherigen Rekorde. Nicht die Arbeit geht uns aus, sondern die Arbeitskraft. Vollbeschäftigung wird möglich. „Arbeit für alle“ muss das Ziel der zu wählenden Bundestagsabgeordneten sein.

Eine große Koalition von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hat in der letzten Dekade jene strukturelle Reformen und Modernisierungsschritte umgesetzt, die allen anderen Euro-Ländern nun noch bevorstehen. Agenda 2010, die Lohnzurückhaltung der Belegschaften und die Leistungsbereitschaft des Mittelstandes haben uns weltweit in höchstem Maße wettbewerbsfähig gemacht. Made in Germany bleibt auf den globalisierten Absatzmärkten das Maß aller Dinge.

Die erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung der letzen Jahre ist der Lohn für die gemeinsamen Reformanstrengungen. Trotz Weltwirtschaftskrise beginnen die Reallöhne nach einer langen Phase der Zurückhaltung nun wieder moderat zu steigen. Vor allem aber führen die steigenden Beschäftigungszahlen dazu, dass sich mehr Deutsche aus eigener Kraft und Leistung ihren Lebensunterhalt und ihren Konsum selber finanzieren können. Einmal mehr zeigt sich, dass mehr Arbeit für weniger Sozialfälle sorgt. Eine gute Wirtschaftspolitik ist immer noch die beste Sozialpolitik. Deshalb sollten die Bundestagsabgeordneten von morgen das Reformrad nicht zurück-, sondern nach vorne drehen.

Aber nicht nur wirtschaftlich geht es Deutschland gut. Das Fundament des Wohlstands ist viel breiter. Die heutige Generation erlebt die längste Phase des Friedens der deutschen Geschichte. Kein Krieg, kein Sterben auf dem Schlachtfeld oder im Schützengraben und keine Angst vor Staatsterror, Bürgerkrieg oder politischer Gewalt machen Deutschland zu einem friedlichen Land. Noch nie konnten Kinder und Jugendliche so wohlbehütet erwachsen werden.

In den letzten Dekaden ist Deutschland – gerade auch im internationalen Vergleich mit anderen westlichen Demokratien – zu einem von Toleranz und Modernität geprägten Land geworden, in dem alle sagen und vor allem auch tun dürfen, was sie denken. Nirgendwo werden Andershandelnde, Außenseiter und von allgemeinen Normen und Werturteilen abweichende Minderheiten rechtsstaatlich besser geschützt und gesellschaftlich offener toleriert. Auch das sind exzellente Voraussetzungen, um als Gesellschaft in einer Welt erfolgreich zu bleiben, die nicht nur in Deutschland bunter und vielfältiger werden wird.

Wie sorgenfrei man in Deutschland leben könnte, wenn man denn möchte, macht der Bundestagswahlkampf beispielhaft deutlich. Wie glücklich muss ein Land sein, das in einem TV-Duell der Spitzenkandidaten kein wichtigeres Thema kennt als die Halskette der Bundeskanzlerin? Harmonie, gegenseitige Achtung und Respekt sind der Maßstab einer Gesellschaft, in der nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten der Werte und Verhaltensweisen im Vordergrund stehen.

In Deutschland geht es nicht mehr um Sein oder Nichtsein, Krieg oder Frieden, um den Kampf der Guten gegen die Bösen, der Protestanten gegen die Katholiken, der Bürgerlichen gegen die Kommunisten, oder der Kapitalisten gegen die Proletarier. Auch Konflikte zwischen den Generationen oder zwischen In- und Ausländern spielen keine Rolle.

Stattdessen geht es – bei allem Respekt für den Einzelfall – um Nebenschauplätze. Medial hochgespielt, werden politische Schlachten um die Einführung einer Maut, eines „Veggie Day“, Herdprämien und darüber geschlagen, ob Mindestlöhne oder Lohnuntergrenzen eingeführt werden sollen, eine Unterscheidung, die bestenfalls für ein paar Eingeweihte nicht aber für die Masse der Menschen erkennbar ist. Es wird um die Dimension von Steuererhöhungen gestritten und nicht etwa darum, wieso der Staat immer mehr Geld braucht, obschon er schon Rekordeinnahmen verbucht.

Unabhängig von der politischen Farbenlehre besteht in Deutschland ein breiter Konsens über die wirklich wichtigen Fragen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft. Faktisch haben sich die Parteien bereits auf jene breite Koalition festgelegt, die sich die Bevölkerung nach der Wahl auch im Bundestag wünschen würde. Energiewende und Atomausstieg sind beschlossen, die Wehrpflicht ist ausgesetzt, der Euro soll erhalten bleiben. Keine größere Partei will hier einen radikalen Richtungswechsel. Erst recht finden sich keine Parteien, die das Ende des Staates oder diametral entgegengesetzt, eine Abschaffung von privatem Eigentum und eine Verstaatlichung aller Unternehmen oder gar einen Gottesstaat fordern, so wie das beispielsweise fundamentalistische Gruppierungen in USA tun.

Ein Wahlkampf, der nicht polarisiert, ist weder Ärgernis noch Grund zur Sorge. Er ist kein schlechtes, sondern ein gutes Zeichen für die breite Akzeptanz der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Nicht Frustration oder Resignation auch nicht Ideologie, sondern weiter Konsens bestimmt die Gemütslage.

Das Fehlen fundamentaler Konflikte zwischen den Parteien spiegelt das allgemeine Grundbefinden der Bevölkerung. Man leistet sich eine Gleichgültigkeit gegenüber den Umständen und deren Veränderungen. Bei allen Klagen darüber, dass es besser gehen sollte und allen Sorgen, dass es schlechter werden könnte, akzeptiert die Masse der Deutschen mehr oder weniger klaglos und etwas fatalistisch die Rahmenbedingungen des Alltags. Man ist nicht so ganz glücklich oder rundum zufrieden. Aber man weiß, dass man mit Blick auf die Vergangenheit oder im Vergleich zum Ausland alles in allem deutlich besser dasteht. Deshalb sehen viele Deutsche wenige Gründe für einen fundamentalen Richtungswechsel der Politik.

Zwar ist Deutschland heute weit von den paradiesischen Zuständen der alten Bundesrepublik der 1970er-Jahre entfernt. Man muss härter und länger arbeiten und die wirtschaftliche Sicherheit von damals ist durch ständige Unruhe, Job- und Ortswechsel ersetzt worden. Noch werden zu viele Potenziale verschwendet, weil sie nicht oder falsch beschäftigt sind. Zu viele haben zu wenig, um eigenständig in Würde und Anstand leben zu können.

Letztlich sind nicht die Farben der Regierungsparteien wichtig

Aber richtig ist eben auch, dass gegenwärtig mehr Menschen Arbeit haben als jemals zuvor in Deutschland. Frauen haben heutzutage mehr Chancen als ihre Mütter, gleichzeitig in Familie und Beruf erfolgreich zu sein. Ältere werden nicht mit 55 in Frühruhestand zum alten Eisen geschickt, sondern werden bis 70 und darüber hinaus gebraucht, gehören auch im Alter mitten zur Gesellschaft, bringen sich politisch ein und bleiben den Firmen als zunehmend unverzichtbare Wissens- und Erfahrungsträger immer länger erhalten. Und selbst Menschen mit Migrationshintergrund sind heute besser integriert als früher.

Der Erfolgskurs der letzten Dekade spricht für sich. Nicht die Farben der Regierungsparteien sind wichtig. Sondern der Wille, zu verändern, was Not tut und zu lassen, was die Menschen selber besser entscheiden können. Deshalb erhält meine Stimme, wer sich gegen eine Abkehr der Reformpolitik und für eine Fortsetzung der Modernisierung Deutschlands einsetzt – Deutschland ist mit dem Euro und ohne Steuererhöhungen auf gutem Wege und ganz sicher auf besserem als bei einer Umkehr einer Strategie, die auf Europa als politischer Garant für Friede und Sicherheit, Toleranz als Grundlage einer modernen Gesellschaft und eine prosperierende Wirtschaft als Voraussetzung für Sozialpolitik, Umverteilung und Gerechtigkeit setzt.