Bundespräsident Joachim Gauck hält seine große Europa-Rede. Und appelliert an die Deutschen, die neuen Chancen gemeinsam zu nutzen.

Berlin. Niemand kann sagen, dass die Prominenz an diesem Freitag im Schloss Bellevue gefehlt hätte. Botschafter, Arbeitgebervertreter und Gewerkschaftsführer sind dabei - Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bleibt allerdings ebenso fern wie ihr Herausforderer Peer Steinbrück (SPD) und andere Spitzenpolitiker. So bestimmen dann doch die vielen Schüler und Studenten das Bild im Großen Saal, als Bundespräsident Joachim Gauck ans Rednerpult tritt. Und vielleicht ist das durchaus beabsichtigt, denn Gauck sieht sein Thema Europa schließlich nicht als Projekt der Eliten, sondern der Bürger und vor allem der Jugend.

11.01 Uhr ist es, als sich die 200 Gäste von ihren Sitzen erheben. Gauck tritt munter an das Rednerpult und legt los. Tatsächlich beginnt Gauck mit dem Blick auf das, was viele Menschen in Deutschland spüren: Europa als Krisenfall. "So anziehend Europa auch ist - zu viele Bürger lässt die Europäische Union in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit zurück." Er stehe zwar als "bekennender Europäer" am Podium, aber: "Für mich ist dieser Tag auch Anlass, neu und kritischer auf meinen euphorischen Satz kurz nach der Amtseinführung zurückzukommen, als ich sagte: ,Wir wollen mehr Europa wagen.' So schnell und gewiss wie damals würde ich es heute nicht mehr formulieren." Denn ein Mehr an Europa brauche Deutung und Differenzierung. "Was wollen wir entwickeln und stärken, was wollen wir begrenzen?" Am Beispiel der Einführung der gemeinsamen Währung zeigte Gauck, dass auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa auch Fehler gemacht worden seien. "Der Euro selbst bekam keine durchgreifende finanzpolitische Steuerung." Gauck forderte dennoch, dass Europa eine "weitere Vereinheitlichung" bei der Finanz-, Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik brauche sowie "gemeinsame Konzepte" bei den Themen Umwelt, Einwanderung und Demografie.

Die Ansprache war der Auftakt zu einer neuen Veranstaltungsreihe im Schloss Bellevue, dem "Bellevue Forum". Mit ihm löst Gauck die von Roman Herzog begründete Tradition der "Berliner Rede" ab. Das Forum wird Diskussionen und Vorträge umfassen.

Konkret wurde Gauck beim Thema, ob Großbritannien in der EU bleiben solle. Premier David Cameron hat ja für 2017 eine Volksabstimmung dazu angedeutet. Gauck wandte sich sehr direkt an die britischen Wähler: "Liebe Engländer, Schotten, Waliser, Nordiren und neue Bürger Großbritanniens! Wir möchten euch weiter dabeihaben! Wir brauchen eure Erfahrungen als Land der ältesten parlamentarischen Demokratie, wir brauchen eure Traditionen, aber wir brauchen auch eure Nüchternheit und euren Mut." Gauck schlug einen Bogen zurück zu Winston Churchill, den er in seiner Rede an anderer Stelle als großen Europäer namentlich erwähnte: "Ihr habt mit eurem Einsatz im Zweiten Weltkrieg geholfen, unser Europa zu retten - es ist auch euer Europa." Auf dem gemeinsamen Weg zur "europäischen res publica" könne man "unter Umständen" streiten, aber "mehr Europa soll nicht heißen: ohne euch!" Und noch etwas ergänzte Gauck in seiner Rede: "Mehr Europa heißt in Deutschland nicht: deutsches Europa." Dafür erhielt Gauck die erste von drei Beifallsbekundungen.

Einen konkreten Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Staatsverständnis schlug Gauck dann doch vor: die Gründung eines gesamteuropäischen Fernsehkanals. "Etwas wie Arte für alle, ein Multikanal mit Internetanbindung, für mindestens 28 Staaten, für Junge und Erfahrene, für Onliner und Offliner, für Pro-Europäer und Skeptiker. Dort müsste mehr gesendet werden als der Eurovision Song Contest oder ein europäischer Tatort." Manuel Sarrazin, europapolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, unterstützte ausdrücklich diese Idee. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück begrüßte die Rede Gaucks. "Der Bundespräsident hat klare Worte gefunden und die Bedeutung Europas für uns Deutsche in der richtigen historischen Perspektive definiert." Außenminister Guido Westerwelle (FDP) erklärte in der "Passauer Neuen Presse": "Das ist ein Signal an die Menschen unseres Landes und an die Länder Europas: Deutschland steht zu Europa und will das europäische Haus weiterbauen."

50 Minuten lang dauerte Joachim Gaucks Rede. Der Bundespräsident definierte die EU als Wertegemeinschaft. Eine "große identitätsstiftende Erzählung" Europas fehle hingegen. "Wir Europäer haben bis heute keinen Gründungsmythos nach Art etwa einer Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität bewahren konnte." Karl Martell gegen die Mauren würde einem da einfallen oder die Schlachten gegen die Ungarn, Mongolen und Türken. Aber die Ungarn sind heute Mitglied der EU, die Türken möchten es werden, und Gauck sagte in der Rede: "Der europäische Wertekanon ist nicht an Ländergrenzen gebunden, er hat über alle nationalen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinweg Gültigkeit."

Am Beispiel der in Europa lebenden Muslime werde dies deutlich. "Sie sind ein selbstverständlicher Teil unseres europäischen Miteinanders geworden. Europäische Identität definiert sich nicht durch die negative Abgrenzung vom anderen." Europas identitätsstiftende Quelle sei ein "im Wesen zeitloser Wertekanon" der Freiheit.