Der SPD-Kanzlerkandidat spricht von Verelendung in Europa. Gauck erwartet von der Kanzlerin, die Finanzkrise besser zu erklären.

Berlin. Ein so interessantes Rededuell hat das politische Berlin lange nicht erlebt. Als Angela Merkel im Bundestag das Wort ergreift, tritt sie an gegen - nein, nicht gegen Peer Steinbrück. Der glücklose Kanzlerkandidat der SPD ist zwar unmittelbar nach Merkel dran, aber er ist an diesem Tag nicht ihr wirklicher Herausforderer. Sondern ein anderer, ein Gegner, der viel schwieriger für Merkel ist: Joachim Gauck, der wortmächtige erste Mann im Staat.

Merkel gegen Gauck? Die Kanzlerin gegen den Präsidenten? Selbstverständlich würden die mächtigste Frau im Land und der erste Mann im Staat diese ungewöhnliche Konstellation leugnen. Aber genau darum geht es: Gauck wird an diesem Freitag eine mit hohen Erwartungen aufgeladene Rede halten: zu Europa. Dem Schicksalsthema der Deutschen und ihrer Kanzlerin. Was er von ihrer Politik zur Rettung der gemeinsamen Währung hält, ist bekannt. "Ich könnte nicht, was sie leistet", hat Gauck anerkennend gesagt. Aber was Merkel nicht leistet, hat er auch gesagt: "Manchmal ist es mühsam zu erklären, worum es geht. Und manchmal fehlt die Energie, der Bevölkerung sehr offen zu sagen, was eigentlich passiert."

Das saß. Denn tatsächlich ist das Erklären ja nicht Merkels Stärke. Sie hat die Finanzkrise gemeistert. Aber die von vielen eingeforderte große Rede dazu hat sie nie gehalten. Sie hat nie auch nur versucht, ihr Tun zu einer großen politischen Erzählung zu verdichten. Blut-, Schweiß- und Tränen-Rhetorik ist, einerseits, wirklich nicht ihre Sache. Andererseits steckt auch Kalkül dahinter: Das Volk soll fühlen, dass seine Kanzlerin das Richtige tut. Fühlen, nicht wissen. Zu groß ist die Gefahr, dass angesichts der ungeheuren Bürgschaftssummen für die Krisenstaaten der eine oder andere treue Staatsbürger den Glauben verlieren würde, dass diese gewagte Wette aufgeht.

Aber es hilft nichts. Gauck hat das Erklären eingefordert und damit einen Wettbewerb eröffnet. Doch Merkel versucht auch gar nicht erst, große Zusammenhänge deutlich zu machen oder gar Sinn zu stiften. Nein, sie redet über den EU-Rat vor 14 Tagen und erläutert sachlich, was dort beschlossen wurde: eine Kürzung des Budgets für die nächsten sieben Jahre. "Es wäre niemandem in Europa zu vermitteln, dass alle in Europa sparen, nur Europa nicht." Dann verteidigt sie den in einer schwierigen Nachtsitzung gezimmerten Kompromiss: Das Budget schrumpft (darüber freute sich vor allem der Brite David Cameron), innerhalb der Finanzplanung können nun Posten leichter verschoben werden (darüber freut sich das EU-Parlament), sechs Milliarden Euro sollen schnell gegen die Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt werden (darüber freuen sich die kriselnden Südländer). Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung steigen "um 37,3 Prozent" (darüber freut sich Merkel).

Die Abgeordneten erfahren, dass das Erasmus-Programm für den Studentenaustausch um 20 Prozent ausgebaut wird und dass die "oberbayerischen Landkreise an der tschechischen Grenze" sich über "gute Beihilferegelungen" freuen können. Das ist schon fast demonstrativ detailverliebt. Aber hatte Gauck, als er von ihr Erklärungen forderte, nicht gesagt: "Sie hat nun die Verpflichtung, sehr detailliert zu beschreiben, was das bedeutet, auch fiskalisch bedeutet?" Dem kommt Merkel nun wirklich nach.

Ihr fehlt der Ehrgeiz, ihre Politik zu überhöhen. "Der Gedanke, dass wir die Starken in die Pflicht nehmen und Fairness herstellen, leitet uns nicht erst seit der Krise." Wer wollte dem widersprechen? Der Rest der Debatte ist nur Beiwerk, mit einigen Absonderlichkeiten freilich. So liefert der einmal als Meister der Finanzpolitik angetretene SPD-Kanzlerkandidat eine Betroffenheitsrede ab, bei der am Ende nur unklar bleibt, ob ihn dazu der Druck der SPD-Linken oder wirklich der bleibende Eindruck einer Athener Kleiderkammer brachte, die Steinbrück unlängst besuchte. Viermal spricht der Kandidat von "Verelendung" in Europa, außerdem von "Kaputtsparen", von Merkels "Spardiktat", von "Rezession und Depression".

"Die ökonomische Krise steigert sich zur Gefahr für die politische Ordnung", prophezeit Steinbrück düster und schlägt als Rezept eine Steigerung der deutschen Kaufkraft vor - durch "faire Lohnabschlüsse", eine Steigerung der öffentlichen Investitionen und gesetzliche Mindestlöhne. Seine Vorschläge einer Finanzmarkt-Transaktionssteuer und der Abtrennung des Investmentbankings vom übrigen Bankgeschäft hat die schwarz-gelbe Koalition bereits übernommen. Seine Kritik am zögerlichen Agieren Merkels in der Krise verdichtet er diesmal zum Begriff der "Last-Minute-Kanzlerin".

Doch Steinbrück redet ins Leere. Die ersten Reihen von Union und FDP folgen einer Anweisung von Fraktionschef Volker Kauder (CDU) und unterlassen Zwischenrufe. Nur einmal stellt der Finanzpolitiker Michael Meister Steinbrück. Der hatte US-Präsident Barack Obama gegen Merkel in den Zeugenstand gerufen, mit einem Satz aus dessen Rede zur Lage der Nation: "Sparpolitik allein ist noch kein Wirtschaftsplan." Meister erinnert daran, dass Obama aktuell plant, mehr Schulden aufzunehmen als alle bisherigen Präsidenten in der 230-jährigen Geschichte der USA zusammen.

Anschließend kritisiert die Linke Sahra Wagenknecht die Euro-Rettungspolitik mit einem Zitat des Ökonomen Hans-Werner Sinn und Argumenten, wie sie auch bei konservativen Unionsabgeordneten zu hören sind: "Nach den griechischen Oligarchen müssen jetzt russische Oligarchen gerettet werden in Zypern, sonst bricht die Welt zusammen - zumindest die Welt dieser Bundesregierung."

Merkel hat da schon nicht mehr hingehört. Die Latte, die ihr Joachim Gauck auflegte, hat sie nicht gerissen. Sie ist vielmehr darunter durchgelaufen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Ob der Bundespräsident heute selbst darüberkommt?