Unabhängige Forschung zum Missbrauchsskandal der Kirche gefordert. Aufarbeitung dürfe nicht verantwortlichem Institution überlassen werden.

München/Berlin. Die Zahlen sind erschreckend: Jedes Jahr werden in Deutschland Tausende Kinder und Jugendliche Opfer sexuellen Missbrauchs. 2011 waren es der polizeilichen Kriminalitätsstatistik zufolge 12.444 gemeldete Fälle. Jetzt sollen Kinder und Jugendliche besser geschützt werden. Mit der bundesweiten Kampagne „Kein Raum für Missbrauch“ werde alles daran gesetzt, ein gesamtgesellschaftliches Bündnis ins Leben zu rufen, sagte der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, bei der Vorstellung der Kampagne am Donnerstag in Berlin.

Sexueller Missbrauch sei eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen, mit häufig schweren Folgen für das weitere Leben. „Diese Straftaten finden nicht zufällig statt oder aus Versehen“, rügte Rörig. Täter handelten mit hoher krimineller Energie, ausgefeilten Strategien und oftmals im Schatten verbreiteter Ahnungslosigkeit. „Deshalb brauchen wir Schutzkonzepte“, erklärte er.

Sprechen, nicht totschweigen

Im Mittelpunkt der neuen Kampagne steht Rörig zufolge die Aufklärung in Familien, Kindertagesstätten, Schulen, Heimen, Sportvereinen und Kirchengemeinden. „Eltern und alle, die beruflich und in ihrer Freizeit mit Kindern arbeiten, sollten durch die Kampagne ermutigt werden, in Einrichtungen und Institutionen das Thema offen anzusprechen und Schutzkonzepte einzufordern.“

Die Kinderschutzorganisation Innocence in Danger kritisierte, über sexuellen Missbrauch müsse „nicht abstrakt und angedeutet, sondern konkret und genau“ gesprochen werden. Der Schutz der Kinder verlange mehr als eine Kampagne, die zum Reden ermutige, sagte Geschäftsführerin Julia von Weiler. Sie forderte „eine deutlich bessere finanzielle und personelle Ausstattung des gesamten Kinderschutzes“.

Konsequenzen gefordert nach Scheitern der Kirchen-Studie

Nach dem Scheitern einer umfangreichen Studie zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche haben Experten und Betroffene Konsequenzen für die Aufarbeitung gefordert. Der Fachbeirat des Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten, Matthias Katsch, verlangt ein Eingreifen von Bundesregierung und Bundestag. „Es braucht den Druck des Staates, beispielsweise eine Enquete-Kommission des Bundestags einzurichten, die sich des Missbrauchs systematisch annimmt“, sagte er der „tageszeitung“ vom Donnerstag.

Der Vorsitzende des Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt (netzwerkB), Norbert Denef, fordert strengere Gesetze zur Aufklärung von sexuellem Missbrauch. Im Bayerischen Rundfunk sagte er: „Wir brauchen eine klare Gesetzesreform, wir brauchen eine Anzeige- und Meldepflicht.“ Vorgesetzte müssten verpflichtet werden, Täter anzuzeigen. Derzeit schütze der Staat nur die Kirche, beklagte Denef. Der 63-Jährige wurde als Kind jahrelang von einem katholischen Messdiener missbraucht.

Die Enttäuschung über das Scheitern der Zusammenarbeit der katholischen Kirche mit dem Kriminologischen Institut Niedersachsen (KFN) ist indes groß. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagte im Deutschlandfunk, die Entscheidung erwecke den Eindruck, dass Kirchen-Vertreter doch nicht alles unabhängig aufklären lassen und am Ende ihre Hand auf gewonnene Erkenntnisse halten wollten. Erneut stellte sie sich hinter das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen.

Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Alois Glück, bezeichnete das Scheitern der Studie als „außerordentlich schädlichen Vorgang“ bezeichnet. Glück sagte dem Südwestrundfunk (SWR), er wisse nicht, weshalb Fragen des Personen- und Datenschutzes „plötzlich ein unlösbares Problem geworden“ seien. Er erwarte von der nächsten Sitzung der Bischofskonferenz Ende Januar, dass dort der „Aufklärungswillen“ bekräftigt werde.

Die katholische Kirche hatte am Mittwoch die Zusammenarbeit mit dem Institut gekündigt, das eine umfangreiche Studie zur Aufklärung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche erarbeiten sollte. Das Vertrauensverhältnis zum Leiter des Projekts, Christian Pfeiffer, sei zerrüttet. Pfeiffer hatte den Bischöfen vorgeworfen, seine Forschung zensieren und über Veröffentlichungen entscheiden zu wollen. Die katholische Kirche will sich nun einen neuen Partner für das Projekt suchen.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sagte, er sehe die Kirche in der Pflicht, das Forschungsvorhaben schnell fortzuführen. Ähnlich äußerte sich auch der Kirchenbeauftragte der FDP-Bundestagsfraktion, Stefan Ruppert. Er erwarte, dass die katholische Kirche weiter mit unabhängiger wissenschaftlicher Begleitung aufarbeiten wird.

Der Kinderschutzbund hat daran Zweifel. Präsident Heinz Hilgers warf den Bischöfen in der „Saarbrücker Zeitung“ (Donnerstagsausgabe) Vertuschung vor: „Ich habe den Verdacht, dass starke Kräfte in der katholischen Kirche jetzt nach der Methode Vergessen-und-Vergeben arbeiten“. Ohne Pfeiffers Institut sei nun „ein Gefälligkeitsgutachten“ zu erwarten