Ein 1400-Seelen-Ort wehrt sich gegen einen Sexualstraftäter, der nach seiner Haftentlassung unter ihnen lebt. Rückfallwahrscheinlichkeit: 80 Prozent.

Hamburg. Wir wollen keine Kinderschänder-Schweine", brüllt Erich Kahlen. 14 weitere "Demonstranten" stehen hinter ihm, wiederholen den Schlachtruf. Dann ruft Kahlen wieder. Der Sprechchor antwortet. Immer im Wechsel. Zehn Minuten lang.

Sie haben Schilder aufgestellt, hier in einer Seitenstraße in Randerath, einem Ortsteil der Stadt Heinsberg in Nordrhein-Westfalen. "Sex-Bestie von Geretsried" steht auf einem, "Achtung! Sexualstraftäter in der Warteschleife ... Wiederholungstäter" auf einem anderen. Es ist der 151. Tag der Proteste gegen einen unerwünschten Nachbarn. Gegen Karl D., verurteilter Sexualverbrecher, seit Anfang März wieder auf freiem Fuß, der bei seinem Bruder wohnt.

Jeden Abend, von 18 bis 20 Uhr, steht die Mahnwache etwa 100 Meter vom Haus entfernt. Das gehört zu den Auflagen der Polizei. Von Hunderten, die am Anfang kamen, ist nur der harte Kern geblieben.

Vier Stunden zuvor ist es noch ruhig in Randerath, sehr ruhig. In dem 1400-Seelen-Ort gibt es drei Kneipen, zwei Kirchen und eine Bäckerei. Friedlich plätschert das kleine Flüsschen Würm durch die grüne Landschaft. Die Straßen sind fast menschenleer. Der Schulhof der Grundschule und der gegenüberliegende Kindergarten sind verwaist. Es sind Ferien. Ein schöner Platz zum Leben.

Das mag sich auch Karl D. gedacht haben, als er nach 14-jähriger Haftstrafe in das Haus seines Bruders und dessen Familie zog. 1994 hatte Karl D. vor einer Diskothek in Geretsried bei München zwei jugendliche Mädchen unter Waffengewalt in seinen Wohnwagen gezwungen, sie stundenlang vergewaltigt und sadistisch misshandelt. Schon zehn Jahre zuvor hatte er sich auf ähnliche Weise an einer 15-Jährigen vergangen und war zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden. Nun hatte der 57-Jährige seine Strafe in Bayern abgesessen. Seine Entlassung war aufgrund einer Gesetzeslücke unvermeidbar. Der Ruf nach Sicherheitsverwahrung verhallte ungehört.

Der neue Nachbar blieb in Randerath nicht lange unentdeckt. Zwei Tage später, am 3. März, ließ der Landrat des Kreises Heinsberg, Stephan Pusch (CDU), die Bevölkerung per Pressemitteilung warnen. Der lokale Radiosender brachte die Warnung stündlich. Ein Kamerateam des Fernsehsenders RTL drehte in der Kleinstadt. Pusch fühlte sich im Zugzwang, wollte einer Medienhysterie entgegenwirken - und erreichte das Gegenteil. Noch am selben Tag versammelten sich Hunderte von Menschen vor dem Haus des Bruders von Karl D.

Was ist wichtiger? Die Privatsphäre eines Menschen oder die Sicherheit der Allgemeinheit? Pusch wertete den Schutz seiner Bürger höher. Karl D.s Bruder, aber auch andere Privatleute zeigten Pusch, der gleichzeitig auch Chef der Kreispolizeibehörde ist, an. Die Ermittlungen wurden eingestellt.

"Pusch hat genau das Richtige getan", sagt die Verkäuferin in der Bäckerei am Marktplatz. Auch wenn die Aufregung danach groß war, Medien und Demonstranten in Scharen einfielen. "Sie können sich nicht vorstellen, was hier los war", sagt sie. "Ich kriege jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich an den NPD-Aufmarsch direkt vor unserem Geschäft denke." Die Polizei musste mit drei Hundertschaften anrücken. Die Rechtsextremisten wollten die Aufregung für ihre Zwecke nutzen. Auf Flugblättern forderten sie die "Todesstrafe für Kinderschänder". Sie sei froh gewesen, als die Nazis wieder abzogen, sagt die Verkäuferin. Aber wenn sie ehrlich sei, will sie auch, "dass die wegkommen". Wie, sei ihr egal. Mit die meint sie Sexualstraftäter wie Karl D. Und seine Verwandten?

Mittlerweile sind die Menschen in Randerath wieder unter sich. Kamerateams sind verschwunden, die Rechten sind gegangen. Auch die Plakate, die Karl D. mit einem schwarzen Balken über seinen Augen zeigten, sind abgehängt. Darauf war zu lesen: "Passt auf eure Kinder auf!" Vor der Kirche am Marktplatz hängen nur noch Wahlplakate. Am 30. August stehen Kommunalwahlen an. Dann könnte Karl D. wieder ins Interesse der Öffentlichkeit geraten. Als Politikum.

Anita Intorp und ihre zweijährige Tochter verlassen gerade die Bäckerei. Noch mache sie sich nicht allzu große Sorgen, sagt die 30-Jährige. "Felicia passt noch nicht in sein Beuteschema. Und ich bin ja immer bei ihr." Doch wie soll es später werden? Wird sie ihre Tochter alleine zur Schule gehen lassen können? Ihr Mann sei in den ersten Wochen jeden Abend zu den Mahnwachen gegangen. Mittlerweile bleibe er daheim. Es ändere sich ja sowieso nichts, sagt die junge Mutter. "Ich möchte, dass er wieder in Haft kommt." Alle in Randerath und Umgebung wollen das. Doch eine nachträgliche Sicherungsverwahrung hatte das Oberlandesgericht München abgelehnt, obwohl Gutachter Karl D. Sadismus und eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 80 Prozent attestierten.

Die Richter verwiesen auf Paragraf 66b StGB, der im Jahr 2004 in Kraft getreten ist. Danach ist eine nachträgliche Sicherungsverwahrung ein so schwerwiegender Eingriff, dass sie nur verhängt werden darf, wenn neue Tatsachen vorliegen, die zum Zeitpunkt der Verurteilung nicht bekannt gewesen sind. Dass von Karl D. eine potenzielle Gefahr ausgehe, reiche allein nicht, um ihn erneut wegzusperren. Denn schon der Richter, der 1995 das Urteil sprach, habe die Fakten gekannt. Karl D. war während seiner Haft auch nicht durch Gewaltausbrüche aufgefallen. Eine Therapie während seiner Haftzeit hatte der Triebtäter allerdings abgelehnt.

"Die Gesetzgebung hat versagt", sagt Hans Speel. Der 57-jährige Garten- und Landschaftsarchitekt, der nur ein paar Kilometer entfernt in Straeten wohnt, fühlt sich ungerecht behandelt. Er habe für einen Bagatellschaden, das versehentliche Aufschrammen eines Außenspiegels, den er sofort der Polizei gemeldet hatte, 20 Tagessätze à 30 Euro aufgebrummt bekommen. "Aber so einen Schwerverbrecher lassen sie laufen. Statt ihn hinter Schloss und Riegel zu stecken, muss er rund um die Uhr von der Polizei überwacht werden", sagt Speel. "Was das kostet."

Mehrere Hunderttausend Euro, schätzt Rainer Wendt, der Bundesvorsitzende der deutschen Polizeigewerkschaft. "Der Gesetzgeber hat geschlampt, und die Polizei muss es ausbaden." Neben den erheblichen Kosten für die Observation reiße die Regelung an anderen Stellen erhebliche Lücken.

Die beiden jungen Zivilpolizisten, die in einem alten Opel vor dem Haus, in dem Karl D. lebt, ihre Acht-Stunden-Schicht begonnen haben, scheinen es gelassen zu nehmen. Fahrräder stehen in Reichweite - für den Fall, dass Karl D. und sein Bruder wieder auf die Idee kommen, einen Ausflug ins Grüne zu unternehmen und sie die Verfolgung aufnehmen müssen. Nach fast fünf Monaten Überwachung sind sie auf alles vorbereitet. Das war nicht immer so. Einmal waren die beiden Brüder ihren Bewachern auf einem Motorrad entwischt und überquerten die belgische Grenze. Strafbar ist das nicht. Karl D. darf sich frei bewegen. Er muss nur Auflagen erfüllen. So darf er sich nicht in die Nähe von Schulen, Diskotheken und Orten, an denen sich bevorzugt junge Menschen unter 25 Jahren aufhalten, begeben.

Das zweistöckige Haus gleicht einer Festung. Da, wo einmal eine Tür gewesen sein muss, sind heute nur noch vermauerte Ziegelsteine. Der 1,70 Meter hohe Zaun ist mit blauen Plastikfolien zugehängt. Es gibt weder eine Klingel noch ein Tor zum Hof. Alles wirkt wie auf einer Baustelle. Die unteren Fenster zur Straße sind mit Folie verhängt. Hinter einem Fenster der oberen Etage steht ein Rentier mit einem Weihnachtsbaum auf dem Kopf. Andere Fenster stehen auf kipp - der einzige Hinweis darauf, dass hier jemand wohnt. Karl D. und sein Bruder haben sich verschanzt. Sie wollen mit niemandem reden. Mit der Presse schon gar nicht. Auch die Ehefrau des Bruders und ihr achtjähriger Sohn leben hier.

Hundert Meter weiter bringt Erich Kahlen Bierbänke und Protestschilder in einer Schubkarre zum stillgelegten Bahnübergang. Ein paar Frauen haben dort schon eine Puppe mit Gummistiefeln aufgestellt, daneben ein Warndreieck mit einer Aufschrift: "Bitte leise! Kinderschänder braucht Ruhe!" Es ist 18 Uhr. Die abendliche Mahnwache beginnt.

Kahlen geht um die Ecke, wo die Polizisten stehen. Er muss die Versammlung anmelden. Ständig bekämen sie neue Auflagen, sagt er. Im Frühjahr standen sie mit Fackeln vor dem Haus. Die Polizei untersagte es. Später, als die Zahl der Demonstranten immer kleiner wurde, durften sie das Megafon nicht mehr benutzen. Mal müssen sie ein paar Schritte vorgehen, mal wieder zurück. Und seit sich ein Anwohner über die Ruhestörung beschwert hat, mussten sie die Straßenseite wechseln.

Jemand verteilt Aufkleber mit dem Spruch "Stoppt Tierversuche! Nehmt Kinderschänder!" Aus dem Internet. "50 Stück kosten nur drei Euro", sagt ein älterer Herr. Die anderen bauen Tische und Bänke auf. Es gibt Kaffee, Kaltgetränke, Melone und Kuchen. Gegrillt haben sie während der Mahnwache auch schon. Nicht jeder hat dafür Verständnis. "Irgendwie müssen wir uns ja die Zeit vertreiben", sagt Silvia Gibbert. "Sonst hält man nicht durch." Die 46-Jährige hat Tochter Alina mitgebracht. Die 20-Jährige ist die Jüngste im Kreis. Sie erzählen, dass Karl D. und sein Bruder während der Mahnwache oft herauskommen, um sie zu beschimpfen, gar zu bedrohen. 24 Strafanzeigen lägen vor.

Erich Kahlen lebt vier Häuser von Karl D. entfernt. Er hat zwei Töchter, 15 und 20 Jahre alt. "Wenn sie Karl D. sehen würden, würden Sie denken: der nette Onkel von nebenan", flüstert Kahlen. "Aber wissen Sie, was er mit den Mädchen gemacht hat, nachdem er sie vergewaltigt hat? Er hat sie überall zugenäht. Auch Augen und Mund." Der 45-Jährige sieht erschöpft aus. Aber aufhören will er nicht.

Dann ist es zehn vor acht. Die Gruppe hat sich formiert. Kahlen und noch drei andere kräftige Männer stehen in der ersten Reihe. Mit ihren breiten Rücken verdecken sie die Frauen und Rentner, die sich hinter ihnen postiert haben. Sie alle schreien immer wieder: "Wir wollen keine Kinderschänder-Schweine." Zehn Minuten lang. Am Ende verabschiedet sich Kahlen: "Und tschüs bis morgen, du alter Kinderschänder!"

In einem Maisfeld nahe Randerath wurde vor einem halben Jahr die Leiche einer 24-Jährigen gefunden. Sie wurde Opfer eines Sexualverbrechens. Der Täter ist unbekannt. Karl D. saß damals noch im Gefängnis.