Unionsabgeordnete aus Großstädten üben scharfe Kritik an ihrer Partei. Sie soll stärker auf eine schwarz-grüne Koalition setzen.

Berlin. Die Reihe der Pleiten ist beeindruckend: Zuletzt verlor Sebastian Turner trotz kräftiger CDU-Unterstützung die Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart, im März traf es überraschend den hessischen Innenminister Boris Rhein in Frankfurt am Main. Im vergangenen Jahr mündeten die Wahlen in den Stadtstaaten Berlin (23,4 Prozent), Bremen (20,4) und Hamburg (21,9) für die CDU in Demütigungen. Für die Christdemokraten, die sich die letzte Volkspartei nennen und als Wählerhort der Mitte sehen, scheinen die großen Städte bis auf Weiteres verloren.

Eine Gruppe von CDU-Großstadtabgeordneten übt nun scharfe Kritik am Auftreten ihrer Partei in den Metropolen. In einem der "Welt" vorliegenden Diskussionspapier werfen sie ihr vor, in wichtigen wegweisenden Diskursen der Stadtgesellschaft nicht vorzukommen. "Wir haben den Anschluss an wichtige Multiplikatoren und gemeinwohlorientierte Interessengruppen weitgehend verloren", heißt es.

Die Partei verhalte sich allzu oft als "Nachhut der öffentlichen Debatte, meist in defensiver Abwehr- oder Erklärungshaltung". Beklagt wird, dass die CDU in den Großstädten keine Themen setze. "Viele zentrale gesellschaftliche Diskurse finden ohne die CDU statt oder laufen an ihr vorbei."

Das Papier, das der Hamburger CDU-Landesvorsitzende Marcus Weinberg und der Frankfurter Bundestagsabgeordnete Matthias Zimmer geschrieben haben, trägt den Titel "Die CDU in der Großstadt: Probleme, Potenziale, Perspektiven" und umfasst zehn Kapitel. Weinberg und Zimmer wollen damit die Debatte in der Gruppe der Großstadt-Abgeordneten über das Profil als Metropolenpartei anregen.

Die Abgeordneten fordern die CDU beispielsweise auf, auch Nicht-Mitglieder als Mandatsträger in den Städten zu gewinnen. Die CDU solle die Möglichkeit erweitern, "Bürgerinnen und Bürger auch ohne Mitgliedschaft in der CDU für Wahlen vor allem auf kommunaler Ebene aufstellen zu können. "Eine moderne Mitmach-Partei muss sich lösen von den Zwängen einer reinen Mitglieds-Partei", verlangen die Abgeordneten in dem Thesenpapier.

Die CDU solle sich zudem offensiv mit den Grünen auseinandersetzen. Mit Blick auf zukünftige schwarz-grüne Koalitionen fordern die Autoren eine "neue städtische Kompetenzverteilung". Und wo die CDU der Unterstützung der grünen Basis bedürfe, müssten die Christdemokraten ein Personalangebot stellen, "das glaubwürdig Offenheit für die zentralen Anliegen der Grünen darstellen kann, ohne sich aber als Christdemokrat zu verleugnen".

Die Autoren stellen fest: "Ein Politikertyp wie Alfred Dregger hätte - bei allen sonstigen Verdiensten - von Typ und Habitus her wenig Möglichkeiten, in das grüne Milieu einzuwirken. Erfolgreiche großstädtische Politiker wie Ole von Beust und Petra Roth haben diese Fähigkeit gehabt. Dies gilt es auch im personellen Angebot der Union zu beachten."

Denn wo einst von Beust und Petra Roth das christlich-demokratische Selbstverständnis der Metropolen verkörperten, klafft nun unübersehbar eine Lücke. Sie zu füllen hat sich die Gruppe von rund 20 CDU-Bundestagsabgeordneten aus Städten mit mehr als 500 000 Einwohnern zur Aufgabe gemacht.

Ihre Analyse soll die Partei aus ihrer Lethargie und Sprachlosigkeit reißen, in die sie sich nach der Vielzahl der Niederlagen in Städten begeben hat. Aufgeschrieben auf 13 Seiten, will das Papier der Partei allerdings keine 180-Grad-Wendung verordnen.

Die Union müsse die Kernthemen Wirtschaft, Finanzen und Sicherheit immer auch zum Alleinstellungsmerkmal machen, fordern die Autoren. Dafür müsse sich die Partei bei den neuen Themen der Stadt öffnen. Ausdrücklich genannt werden in diesem Zusammenhang die Folgen der Globalisierung in der Stadt, Integration, Wissensgesellschaft, Bürgergesellschaft und Qualifizierung.

Eigentlich - auch das lässt sich aus dem Papier herauslesen - wurden der CDU zu besseren Zeiten all die Attribute zugeschrieben, die heute so schmerzlich vermisst werden. Als eindrucksvolles Modell der letzten Jahre könne man die Wachsende Stadt der Hamburger CDU-Regierungen unter Ole von Beust bezeichnen, meinen Weinberg und Zimmer. Sie erinnern daran, dass es Beust nach der Regierungsübernahme 2001 mit nur 26 Prozent der Stimmen gelang, 2004 mehr als 47 Prozent und die absolute Mehrheit und 2008 mehr als 42 Prozent zu holen. Dem Lob folgt allerdings die Abrechnung: Am Ende der schwarz-grünen Koalition in Hamburg sei der moderne CDU-Ansatz von Großstadtpolitik kollabiert.

Schwarz-Grün sei trotzdem längst nicht tot, postulieren die Großstadt-Christdemokraten. Das Personal sollte allerdings grüne Wählerschichten ansprechen. Die entscheidende Barriere zwischen CDU und den Grünen sei das "Lebensgefühl": Grün sei es, sich zur fortgeschrittenen gesellschaftlichen Avantgarde zu zählen und in einer seltsamen Form demonstrativer Adoleszenzverlängerung jene Formen des Stils und Habitus bürgerlicher Tugenden gering zu schätzen, die zum Kanon bürgerlicher Zivilisiertheit gehört haben oder gehören. "Grün ist die permanente Verweigerung des Erwachsenwerdens." Gleichzeitig sei die Existenz der Grünen häufig durch bürgerliche Lebensumstände geprägt: ein Leben in den sanierten Altbauten der gentrifizierten Stadtviertel, in bildungsbürgerlichem Habitus und mit einer gewissen Lust an einer diskursiven, kritischen Durchdringung der Lebenswelt.

Gleich in mehreren Kapiteln kommt das Verhältnis zu den Grünen zur Sprache. Als "Lifestyle-Partei" wird sie zum Hauptgegner der Stadt-CDU erkoren und zugleich zum logischen strategischen Partner. Dass die CDU in den Städten an den Grünen nicht mehr vorbeikommt, ist für den Hamburger CDU-Chef Weinberg keine Überraschung: "CDU und Grüne entwickeln eine steigende Konkurrenz in den Städten. Die CDU muss daher auf Augenhöhe mit stärkerem Selbstbewusstsein mit den Grünen diskutieren." Die SPD sehe in den Grünen und in der CDU immer nur mögliche Juniorpartner für ihre Stadtpolitik. "Wir und die Grünen könnten Partner mit unseren klaren unterschiedlichen Profilen für die Städte sein", sagte Weinberg. Zimmer sieht es genauso. "Wir verlieren die Menschen dort, wo sich die Mitte definiert." Diese Mitte, so viel lässt das Thesenpapier an Deutung zu, wird immer grüner.