In einem bewegenden Trauergottesdienst gedachten die Menschen in Winnenden gestern Abend der Opfern des Amoklaufs. “Wir hatten gehofft, solche Bilder in Deutschland nie wieder zu sehen“, sagte Landesbischof Frank Otfried July.

Draußen standen die Menschen in der Kälte und gedachten weinend und mit Blumen in den Händen der Opfer. Sie hatten keinen Platz mehr gefunden in der überfüllten katholischen St.-Kar- Borromäus-Kirche in Winnenden, in der gestern Abend die Trauerfeier für die Toten des Amoklaufs stattfand. "Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Ohnmacht, blankes Entsetzen und Hilflosigkeit lähmen uns alle seit heute Vormittag", sagte der katholische Weihbischof Thomas Maria Renz. Er hielt den Gottesdienst, an dem auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) teilnahm, zusammen mit dem evangelischen Landesbischof Frank Otfried July. Auch in der Kirche brachen viele der anwesenden Trauernden immer wieder in Tränen aus.

July, selbst Vater von vier Kindern, sagte, er könne sehr gut nachempfinden, wie es den Eltern angesichts der schrecklichen Ereignisse ginge: "Wir hatten gehofft, solche Bilder in Deutschland nie wieder zu sehen."

Es waren Bilder des Grauens, die eine Stadt gestern kollektiv in einen Schockzustand versetzten und die Menschen in ihrer Hilflosigkeit abends Zuflucht in der Kirche suchen ließen. Um zu trauern, um nicht allein zu sein. Und um vielleicht Antwort auf die Frage zu finden: Warum?

Es waren Bilder von entsetzten Eltern, die verzweifelt versuchten, über Handy ihre Kinder zu erreichen. Und andere, die überglücklich ihre Liebsten vor der Schule in die Arme schlossen. Neun Kinder aber überlebten den Amoklauf des 17 Jahre alten Tim K nicht. Unter ihnen sind acht deutsche Schülerinnen der Albertville-Realschule, alle im Alter zwischen 14 und 15 Jahren. Ein getöteter Schüler soll aus dem Kosovo kommen. Eine Mutter berichtete von ihrer Tochter, die "in die 10. Klasse geht" und "live miterlebt hat", wie der Täter "einem Mitschüler in den Hals geschossen hat". Die Tochter war zuerst "wie erstarrt" und konnte dann zusammen mit einer Klassenkameradin durch einen Sprung aus dem Fenster flüchten. Andere verließen die Schule panikartig über Feuerleitern.

Die Polizei berichtete später, dass sie "in einem Klassenraum hinten links fünf getötete Schüler" gefunden hat, die von dem Amoklauf völlig überrascht worden sind und "teilweise ihre Schreibstifte noch in der Hand gehalten hatten". Zwei Getötete wurden in einem weiteren Klassenzimmer gefunden. Zwei Schülerinnen sind später im Krankenhaus gestorben.

Unter den drei ermordeten Lehrerinnen ist eine junge Referendarin, 24 oder 25 Jahre alt. Ob sie es war, die sich schützend über einige Kinder geworfen und ihnen damit das Leben gerettet hat, konnte die Polizei zunächst nicht bestätigen. Eine andere Lehrerin "mittleren Alters" fanden die Beamten später erschossen im Physikraum "hinter dem Experimentiertisch". Eine weitere Lehrerin soll geistesgegenwärtig ein Klassenzimmer abgeschlossen und so noch Schlimmeres verhindert haben. Offenbar wurde sie durch eine verschlüsselte Durchsage ihres Schuldirektors gewarnt, der über Lautsprecher durchgegeben hatte: "Frau Koma kommt." "Koma" rückwärts gelesen bedeutet "Amok".

Die Polizei untersucht jetzt, ob es Absicht oder reiner Zufall ist, dass elf der zwölf Opfer in der Schule weiblich sind. "Die Sitzordnung in den Klassen spricht aber nicht unbedingt dafür, dass der Täter es ganz bewusst ausschließlich auf weibliche Opfer abgesehen hat", hieß es in der Pressekonferenz.

Die 15 Jahre alte Jasmin befürchtete, dass die Schwester einer ihrer Freundinnen unter den Opfern ist. "Deshalb bin ich hier, um mehr zu erfahren", sagte sie.

Nach dem Blutbad in der Schule tötete der Amokschütze zunächst den Mitarbeiter eines Zentrums für Psychiatrie in unmittelbarer Nachbarschaft der Schule, dann nahm er einen Autofahrer als Geisel. Der 41-Jährige hatte Glück, dass er nicht zu den Opfern gehörte, denn er wurde, so die Polizei, "während der Fahrt permanent mit der Waffe am Kopf bedroht".

In einem VW-Autohaus eröffnete Tim K. erneut das Feuer und erschoss einen 36 Jahre alten Mitarbeiter und einen 46 Jahre alten Kunden - seine Opfer Nummer 14 und 15. Beim Verlassen des Autohauses gab es einen heftigen Schusswechsel mit zwei Polizisten. Nachdem Beamte Tim K. ins Bein geschossen hatten, richtete der 17-Jährige schließlich die Waffe gegen sich selbst.

Die Trauerarbeit geht weiter: In der evangelischen Schlosskirche Winnenden soll heute um 19 Uhr ein weiterer ökumenischer Gottesdienst stattfinden.