Es ist Krise, aber die meisten Deutschen gehen nicht hin. Statt Untergangsstimmung, wie sie in solchen Lagen typisch war, herrscht eine neue Gelassenheit. Wie kam es dazu? Erklärungsversuche von Olaf Preuß.

Es sind solche einfachen, verständlichen Sätze, die einen hoffen lassen: "Die Exporte werden bis zum Herbst noch schrumpfen, das ist klar", sagte gestern der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer. "Doch der Sturzflug der deutschen Wirtschaft ist vorbei. Wir sind in den Landeanflug übergegangen." Das ist ein schönes, sanftes Bild angesichts der deutschen Exporte im Monat April: Ihr Wert ist gegenüber dem April 2008 um rund ein Drittel abgestürzt - mit einem herkömmlichen Landeanflug hat das nichts zu tun. Das tut dem Exportweltmeister Deutschland so weh wie ein Hammerschlag vor die Kniescheibe. Doch Volkswirte wie Krämer verbreiten Optimismus. Das war nicht immer so.

Deutschland im Frühsommer 2009: Das Land muss sich auf einen beispiellosen Rückgang der Wirtschaftsleistung von fünf bis sechs Prozent einstellen, die Arbeitslosigkeit ist über Monate gestiegen, für eine Erholung der Weltwirtschaft gibt es keine eindeutigen Signale. Der Staat lenkt in Schlüsselbranchen wie dem Finanzmarkt oder der Autoindustrie herum wie im Führerhaus eines Baggers, die öffentliche Hand pumpt Abermilliarden Euro in die Stützung der Wirtschaft. Einstigen Topunternehmen wie Schaeffler, Porsche oder Opel droht die Pleite, der Karstadt-Mutterkonzern Arcandor meldet Insolvenz an, die Zahl der Konkurse im Mittelstand wächst dramatisch.

Verblüffung im Ausland

Doch was tun die Menschen im Land? Sie füllen die Biergärten, sobald die Sonne scheint, sie genießen in ihrer Freizeit einen bislang überwiegend prächtigen Frühling. Sie kaufen ein wie immer, in diesem Jahr auch Hunderttausende billige Neuwagen dank "Abwrackprämie". Sie nehmen die Krise zur Kenntnis.

Wohin aber ist die Angst der Deutschen verschwunden? Jene tiefe Verunsicherung und Fortschrittsfeindlichkeit, jene Furcht und Skepsis vor der Zukunft, die sich immer wieder in quälenden Debatten über die nahende Apokalypse Bahn brach, die Angst vor Atomkrieg, Waldsterben und Klimawandel, vor teurem Benzin, Massenarbeitslosigkeit, Rinderwahn und Vogelgrippe? Jene Schwarzmalerei, die so charakteristisch für die Deutschen zu sein schien, dass der angelsächsische Sprachraum den Begriff als "German Angst" gleich übernahm.

Es hat sich Gravierendes verändert in den vergangenen fünf Jahren, eine Metamorphose, so überraschend wie die nächtliche Verwandlung des Gregor Samsa in einen Käfer in Franz Kafkas gleichnamiger Erzählung. Die verblüffende Verwandlung des deutschen Gemüts wenige Jahre nach der Jahrtausendwende allerdings erscheint als eine ganz und gar positive Entwicklung, die auch von ausländischen Beobachtern erstaunt registriert wird. "Die Welt steht kopf - die Lage ist fürchterlich, aber die Deutschen sind glücklich!", schrieb Roger Cohen, Berliner Korrespondent der "New York Times", kürzlich in der "Süddeutschen Zeitung".

Noch vor einem halben Jahrzehnt litt Deutschland unter der letzten Wirtschaftkrise, es waren die Nachbebeben der gescheiterten "New Economy", der Absturz vieler Unternehmen, die letztlich nichts anderes als schönen Schein verkauft und damit teils irrwitzige Börsenbewertungen erzielt hatten, so wie der Filmrechtehändler EM-TV, der Zeppelin-Hersteller Cargolifter oder Hunderte "Dotcom"-Unternehmen aus der schönen, neuen Internet-Welt.

Die viel geringeren Auswirkungen jener Krise waren in keiner Weise mit der heutigen Situation zu vergleichen. Die Stimmung im Land allerdings auch nicht: Die politischen Folterinstrumente der Jahre 2004 und 2005 hießen Sozialreformen, Hartz IV, Deregulierung, Lohnverzicht. Die Stimmung in Deutschland war so düster und gruselig wie die Klosterkulissen in Umberto Ecos Mittelalter-Krimi "Der Name der Rose". Den Hintergrund für diese Befindlichkeit bildete die Zahl von mehr als fünf Millionen registrierten Arbeitslosen. Der Untergang des geschwächten Vaterlandes, der Rückfall in chaotische Verhältnisse wie gegen Ende der Weimarer Republik erschien vielen bereits als ausgemachte Sache.

Die Meinungs- und Stimmungsmacher der deutschen Politik und Ökonomie betätigten sich als heilige Inquisition, tatkräftig unterstützt von vielen Medien als willige Folterknechte. Sie legten das Land aufs Nagelbrett, vorzugsweise am Sonntagabend beim Phrasendreschen in der Talkshow "Sabine Christiansen".

Es geht nicht immer aufwärts

Zu der Frage "Ist Deutschland noch zu retten?" durfte der Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn dort seine Thesen darüber erläutern, warum der Sozialstaat noch viel drastischer eingerissen werden müsse als von der rot-grünen Bundesregierung sowieso schon geplant. "Wir sind alt, satt und müde", lamentierte der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel über die deutsche Chancenlosigkeit gegenüber aufsteigenden Wirtschaftsraketen wie China und Indien. Die Wirtschaftsverbände wetteiferten um die tödlichsten Prognosen für ihre Branchen, da durfte niemand zurückstehen: "Deutsche Sargindustrie findet keine Ruhe - hohe Umsatzverluste", verbreitete die Nachrichtenagentur dpa im Oktober 2005 die Klagen des Verbandes der Deutschen Zulieferindustrie für das Bestattungsgewerbe. Zu geringe Sterbequoten und wachsende Konkurrenz durch osteuropäische Billigsärge setzten der Branche schwer zu.

Ende 2005 verlor Kanzler Gerhard Schröder die Bundestagswahl. Die Große Koalition von Union und SPD löste Rot-Grün in Berlin ab. Und nahezu schlagartig verstummte der Pessimismus in Deutschland.

Anfang 2006 begann der Wiederaufschwung der Wirtschaft, Mitte 2006 bescherte die Fußball-Weltmeisterschaft dem Gastgeber Deutschland ein "Sommermärchen" bei strahlendem Sonnenschein. Die Arbeitslosigkeit sank stetig, und die deutsche Wirtschaft verteidigte ein ums andere Jahr ihren Rang als "Exportweltmeister". Von Hans-Werner Sinn und den Seinen hörte man erfreulich lange nichts mehr.

Mittlerweile versammeln sich die Besserwisser und Kaffeesatzleser, die die Wirtschaftskrise so präzise vorhergesagt haben, wieder in den Talkshows und präsentieren raumgreifende Thesen - nun vorzugsweise über den heilsamen Einfluss des Staates bei der Stützung der Konjunktur. Aber heutzutage hört ihnen kaum mehr jemand zu.

Bei näherer Betrachtung erscheint der neue deutsche Pragmatismus gar nicht so geheimnisvoll. Bertrand Benoit, Berliner Korrespondent der britischen "Financial Times", hat die Krisenlage in Deutschland mit der in den USA verglichen. Ein stabileres Sozialsystem hierzulande trage wesentlich dazu bei, dass die Stimmung in Deutschland bislang eher zuversichtlich ist. Eine Ursache ist für ihn aber auch schlicht die Gewöhnung an schlechte Entwicklungen: "Haben die Deutschen Angst vor sinkenden Einkommen? Haben sie nicht", schrieb Benoit bei "zeit.de", "zumindest dann nicht, wenn sie mehr als eine Dekade lang stagnierende oder schrumpfende Einkommen erlebt haben wie die meisten Deutschen. Die haben sich einfach daran gewöhnt."

Das war noch bis zum Beginn dieses Jahrzehnts, bis in die letzten Spätausläufer des "Wirtschaftswunders" hinein, völlig anders. Bis dahin hatten die meisten deutschen Haushalte die Perspektive vor Augen, dass es für sie materiell immer weiter aufwärtsgehen könne.

Benoit betrachtet die Haltung der Deutschen eher als Fatalismus, als ein mehr oder weniger stilles Einverständnis mit den herrschenden Verhältnissen. "Zeit"-Autor Ulrich Greiner ist da optimistischer: "Es sieht so aus, als müssten die Deutschen ihr Bild von sich revidieren", schrieb er kürzlich. "Vielleicht sind wir gar nicht mehr so deutsch, wie wir glauben." Vielleicht wirken nun der bereits mehr als 60 Jahre währende Frieden, die enge Einbindung in die Europäische Union, das hohe Ansehen Deutschlands weltweit, die nach wie vor (zumindest bis zur Krise) extrem starke deutsche Wirtschaft, das Heranwachsen einer neuen Generation, die weder Krieg noch deutsche Teilung erlebt hat.

"Die Stimmung kann kippen"

Die Meinungsforscher zumindest entdecken bislang keine Verwerfungen der Deutschen im Verhältnis zu ihrem Staat und ihrer Wirtschaftsordnung. Mehr als drei Viertel der Befragten gaben in einer Umfrage des Instituts Allensbach an, dass sich ihre persönliche Lage in den kommenden zwölf Monaten nicht ändern werde, weder zum Besseren noch zum Schlechteren. Zwei Drittel vertraten die Meinung, dass unser Wirtschaftssystem auch angesichts der Krise nicht grundsätzlich infrage zu stellen sei. Und mehr als die Hälfte hielten es für richtig, dass der Staat derzeit so stark in die Wirtschaft eingreift.

Eine Tendenz zur moralischen oder politischen Erosion zeigt das nicht. Aber die eigentliche Herausforderung hat Deutschland womöglich auch noch nicht erlebt. "Ich glaube nicht an die vermeintlich neue Gelassenheit in diesem Land. Unter der Oberfläche gibt es sehr viel Wut und Frust, die die Menschen aber wegen ihrer Angst vor einem sozialen Abstieg nicht zeigen", sagt der Wirtschaftssoziologe Professor Klaus Dörre von der Universität Jena. "Wenn sich die Wirtschaftslage nicht bis zum Herbst deutlich bessert, wird die Stimmung hier schlagartig kippen."

Der entscheidende ökonomische Puffer gegen die Wucht der Krise war die massive Ausdehnung der Kurzarbeit, darin stimmen etliche Experten überein. Rund 1,1 Millionen Arbeitnehmer verrichten derzeit Kurzarbeit, für die der Staat den Menschen einen Ausgleich zu ihrem Einkommen zahlt. Das sind gut eine Million Kurzarbeiter mehr als noch im November. Wenn es die Kurzarbeit in dieser Form nicht gäbe, rechnete Frank-Jürgen Weise - der Chef der Bundesagentur für Arbeit - in der vergangenen Woche vor, dann wären derzeit nicht rund 3,5 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, sondern noch einmal rund 360 000 Inhaber von Vollzeitstellen mehr. Der Staat kann die Finanzierung der Kurzarbeit ausweiten, zurückzahlen müssen die zusätzlichen Schulden ohnehin künftige Generationen. Die Frage ist nur, wie lange die Unternehmen durchhalten. "Die Kurzarbeit wird uns wohl über den Sommer bringen", sagt Weise. "Danach kommt eine wichtige Schwelle."

Die Gelassenheit der Deutschen im Frühsommer 2009, die Normalität im Zeichen einer schweren Krise, das wirkt so unwirklich wie ein neues Sommermärchen. Ein Märchen aus einem Land, in dem die Menschen in die Läden strömen und die Krise hinweggkaufen. Ein Land, in dem man noch immer fleißig Häuser baut und gemeinsam grillt, in dem man sich gegenseitig die Haare schneidet, die Kinder hütet und miteinander den Rasen mäht. Ein Land, das sich selbst aus dem Sumpf zieht wie der Baron von Münchhausen an seinem Zopf. Manchmal, das wussten schon die Brüder Grimm, manchmal werden Märchen tatsächlich wahr.