Verfassungsschützer, Beamte und Ermittler zeigen sehr verschiedene Wahrnehmungen über das, was Ende der 1990er Jahre geschah.

Erfrurt. Die Machtkämpfe und Intrigen in Thüringens Verfassungsschutz Ende der 90er Jahre wirken nach. Im NSU-Ausschuss des Landtags, der den Fall des Terrortrios Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) aufklären soll, kolportieren Ehemalige boshafte Geschichten über nackte Füße im Amt, schäbigen Umgang mit Mitarbeitern, Querulantentum und betrügerische Abrechnungen.

Seit Februar sitzen die Abgeordneten im Ausschuss zusammen. Und was sie ans Licht brachten, sind vor allem viele Erinnerungslücken und mitunter sehr verschiedene Wahrnehmungen über das, was Ende der 90er passiert ist – bevor der NSU entstand, dem eine beispiellose Mordserie angelastet wird.

Einig waren sich der umstrittene und exzentrische Ex-Präsident Helmut Roewer und seine Gegner aber in einem: „Was immer Ihnen Polizisten hier erzählt haben, wir haben nicht gemauert“, sagte der ehemalige Vizepräsident und Roewer-Gegenspieler Peter-Jörg Nocken bei seiner Befragung am Dienstag vor dem Landtagsgremium in Erfurt.

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Ganz anders hatten es Kriminaler zuvor geschildert: Von der „Faust in der Tasche“ sprach da ein Polizist, als ihn ein später als V-Mann enttarnter Neonazi morgens um 6.00 Uhr grinsend mit seinem Computer erwartete, der plötzlich keine Festplatte mehr hatte.

Unisono bestritten Verfassungsschützer die Vorwürfe, sie hätten V-Leute vor der Polizei geschützt, Ermittler bei turnusmäßigen Dienstbesuchen bloß „abgeschöpft“ und selber keine brauchbaren Informationen geliefert. Polizisten klagten über „Einbahnstraßen“. Nocken widersprach: „Es gab Informationsaustausch reichlich und häufig.“ Nicht ein einziger Fall sei ihm bekannt, in dem vor Durchsuchungen gewarnt wurde, hatte schon Ex-Präsident Roewer in seiner frostig und teilweise aggressiv geführten Befragung gesagt.

Nach seiner Entscheidung, Akademiker ohne Erfahrung im Verfassungsschutz ins Amt zu holen, hatten sich den Schilderungen zufolge damals zwei sich immer heftiger bekämpfende Lager im Amt gebildet. Roewer, dem ein selbstherrlicher Führungsstil nachgesagt wird, gelang es nicht, den eskalierenden Konflikt zu befrieden. Schmutzgeschichten über angebliche Candle-Light-Dinner im Amt und im Suff kaputtgefahrene Dienstwagen waren die Folge. Roewer zog den Kürzeren und wurde im Frühjahr 2000 suspendiert. Die Politik hielt das Amt damals für fast arbeitsunfähig, Ex-Vize Nocken nicht.

Deutlich wurde auch, wie abhängig der Nachrichtendienst von wenigen „Edelquellen“ wie dem V-Mann Tino Brandt war – obwohl der nach Ansicht vieler Abgeordneter dafür zu hoch in der Neonazi-Hierarchie stand. Rund 100 000 Euro Spitzelhonorar bezog er nach nicht dementierten Angaben von 1994 bis zu seiner Enttarnung

2001. Selbst den Vorschuss für ein Auto war er dem Dienst wert.

Ohne Brandt, den Kopf des Netzwerks „Thüringer Heimatschutz“, wäre der Verfassungsschutz im Neonazi-Spektrum blind gewesen, sagte Nocken. Auch nach dem Untertauchen des späteren Terrortrios im Januar

1998 war Brandt die wichtigste Quelle des Verfassungsschutzes bei dessen eigener Suche – parallel zur Fahndung der Polizei. Viel davon sei nicht bei den Zielfahndern des Landeskriminalamtes angekommen, kritisierte die Unabhängige Kommission, die die Arbeit der Thüringer Behörden in Sachen NSU untersucht hat.

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Doch auch die Polizeiermittler schienen nicht viel Vorwissen über die Szene gehabt zu haben. Staatsschützer schilderten, wie sie die Stapel der Ermittlungsakten von Hakenkreuzschmierereien bis zu Körperverletzungen abarbeiteten. Als breitestes Lagebild über die Alltagsarbeit hinaus gelten noch Erkenntnisse einer Sonderkommission namens „Rex“, die Ende 1996 unter ungeklärten Umständen aufgelöst wurde. Ihre Ermittler zerstreuten sich in alle Winde, ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen „Heimatschutz“-Mitglieder wurde eingestellt.

Keine Aufklärung bekam der Ausschuss auch zur umstrittenen Geheimdienst-Operation „Rennsteig“, über deren Aufarbeitung die Chefs des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Thüringer Landesamtes stürzten. Geheimdienstler aus dem Freistaat erinnerten sich nicht an die Aktion oder dabei neu gewonnene V-Leute im „Thüringer Heimatschutz“ (THS). Die Linke-Abgeordnete Katharina König spottete über die Anwerbeversuche auf Twitter: „THS was ist das schon – jeder vierte ein Spion“.

Nach der Sommerpause wird der Ausschuss noch einmal Roewer hören und nähert sich dann der eigentlichen Fahndungsphase ab 1998, die bislang keine Rolle gespielt hat. Viele der Zeugen bekommen dann ihren zweiten Auftritt.

( dpa )