Am 17. Oktober 1989 entmachtete die SED-Führung den DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker. Eine Rekonstruktion der Ereignisse.

Der 17. Oktober 1989 ist ein trüber Herbsttag. Kurz vor zehn Uhr rollen vor dem ZK-Gebäude am Werderschen Markt in Ost-Berlin nach und nach die dunkelblauen Volvos der Politbüro-Mitglieder an. Zuletzt fährt ein Citroen CX vor, aus dem SED-Chef Erich Honecker steigt. Kurz darauf betritt er das düster anmutende Gebäude, das die Nazis nahe der Spree in den späten 30er-Jahren für die Reichsbank erbaut haben und in dem seit 1959 Zentralkomitee und Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei residieren.

Als Honecker wenige Minuten nach 10 Uhr in den Fahrstuhl steigt, um den im zweiten Obergeschoss gelegenen Sitzungssaal des Politbüros zu erreichen, ahnt er nicht, dass seine politische Karriere in wenigen Minuten zu Ende sein wird. Wie immer begrüßt er die 23 anwesenden Mitglieder des innersten Machtzirkels der DDR per Handschlag, bevor er am Kopfende des langen Sitzungstisches Platz nimmt und seinem Büroleiter Edwin Schwerdtner zunickt, der die Tagesordnung vorliest. Ob es weitere Vorschläge zur Tagesordnung gebe, fragt der SED-Chef routinemäßig in die Runde. Da hebt Willi Stoph, der Vorsitzende des Ministerrates und ein enger Honecker-Vertrauter, die Hand. "Ja bitte, Willi", sagt Honecker und glaubt im nächsten Moment, seinen Ohren nicht zu trauen. "Ich schlage als ersten Punkt die Entbindung des Genossen Erich Honecker von seiner Funktion als Generalsekretär und die Wahl von Egon Krenz zu seinem Nachfolger vor."

Einen Moment herrscht Stille, die meisten Politbüro-Mitglieder blicken betreten auf den Tisch und meiden den Blickkontakt zum Chef, dessen Sturz gerade inszeniert wird. Honecker, von einer schweren Krankheit gezeichnet, ist mit 77 Jahren ein Greis, der ohnehin Mühe hat, die Aufgaben eines Staatschefs täglich zu erfüllen. Aber sein Machtinstinkt hat bis jetzt immer funktioniert, er spürt, dass er gerade im Begriff steht, Opfer einer Verschwörung zu werden. Aber noch kennt er die realen Kräfteverhältnisse nicht. Sein Blick schweift über die Runde, er sieht den Wirtschaftsboss Günter Mittag und Joachim Herrmann, der für die Medien zuständig ist. Auf die beiden wird er sich verlassen können, denkt er, sicher auch auf Armeechef Heinz Kessler - doch der fehlt als Einziger, denn er weilt zu einem Staatsbesuch in Nicaragua.

Aussitzen, einfach ignorieren, denkt sich Honecker, der erst einmal Zeit gewinnen will. Also geht er zur Tagesordnung über. Doch gleich mehrere Politbüro-Mitglieder fallen ihm ins Wort, irritiert hält er inne und sagt dann beleidigt: "Na gut, diskutieren wir drüber."

Was nun folgt, ist für den SED-Chef ein Albtraum. Nach und nach rechnen alle Spitzengenossen mit dem Generalsekretär ab, werfen ihm Fehler, Versagen und falsche Entscheidungen vor und verlangen seine Absetzung. Sie machen ihn und seine Politik dafür verantwortlich, dass die DDR am Abgrund steht. Aus ihrer Sicht ist allein Honecker daran schuld, dass erst am Vorabend 150 000 Menschen in Leipzig auf die Straße gegangen sind und inzwischen unverblümt den Rücktritt der Führung fordern. Dass der ehrgeizige Krenz gegen ihn opponiert, überrascht Honecker nicht. Auch die Kritik des mächtigen Berliner Parteichefs Günter Schabowski steckt Honecker noch mit unbewegtem Gesicht ein, als aber auch sein Jagdgenosse Günter Mittag an dem Scherbengericht teilnimmt und sogar der bis zur Selbstverleugnung loyale Propaganda-Chef Herger in den Chor einfällt, hat er Mühe, die Fassung zu bewahren. "Eine solche Entscheidung war schon längst fällig", sagt Mittag, den Honecker bis zu dieser Minute beinahe für einen Freund gehalten hat. Aber es kommt noch schlimmer: Nach ungefähr anderthalb Stunden meldet sich Stasi-Chef Erich Mielke zu Wort und setzt Honecker mit der Drohung unter Druck, dass er Dokumente im Safe habe, die sein makelloses Bild als antifaschistischer Widerstandskämpfer beschädigen könnten. Erregt versucht sich der SED-Chef zu verteidigen, brüllt Mielke an, er solle "sein Maul nicht so weit aufreißen" und aufhören, "meinen antifaschistischen Kampf" in den Dreck zu ziehen.

An der Reaktion seiner Genossen, von denen ihm keiner beisteht, erkennt Honecker, dass die Würfel gefallen sind. Er weiß zwar noch nicht, dass Krenz Vorsoge getroffen hat und dass vor der Tür bewaffnete Stasi-Leute warten, die bereit sind, Honecker notfalls zu verhaften. Aber er begreift, dass er keine Chance mehr hat.

Gegen 13.45 Uhr scheint alles gesagt zu sein. Dem Sturz folgt der erste Akt der Demütigung. Laut Protokoll muss Honecker als Sitzungsleiter die Runde auffordern, über den Antrag abzustimmen. Alle stimmen zu. Honecker blickt noch einmal mit versteinertem Gesicht in die Runde und hebt dann selbst die Hand. Einstimmigkeit, das weiß er als Stalinist, ist das Credo der Partei. Der Einzelne zählt nicht. 13.50 Uhr verlässt Honecker den Sitzungssaal, ohne seinen Genossen nochmals die Hand zu geben. Er geht nur noch einmal in sein Arbeitszimmer und verabschiedet sich von seinen sechs engsten Mitarbeitern.

Zwei Tage zuvor hatten die Drahtzieher des Umsturzes die Weichen gestellt.

In der Waldsiedlung Wandlitz, wo die Mitglieder des Politbüros von der Öffentlichkeit streng abgeschirmt und militärisch gesichert in 50er-Jahre-Bungalows wohnten, trafen sich am späten Nachmittag zwei Männer im Trainingsanzug. Es sollte wie ein zufälliges Treffen wirken, denn private Kontakte - das besagte ein ungeschriebenes Gesetz - waren seit Jahren in Wandlitz tabu. Damit wollte Honecker Verschwörungen verhindern. Doch genau darum ging es Egon Krenz und Günter Schabowski an diesem tristen Oktobersonntag. Gemeinsam huschten sie in das Haus von Harry Tisch, dem Chef der Einheitsgewerkschaft FDGB. Auch er gehörte zum Kreis der Verschwörer, die seit dem 8. Oktober den Sturz des SED-Chefs planten, um das Ruder in der krisengeschüttelten DDR noch einmal herumzureißen und damit die eigene Haut zu retten. Tags darauf wollte Tisch zu einem Gewerkschaftstreffen nach Moskau fliegen, wo er Gorbatschow über den für Dienstag geplanten Sturz informieren und dessen Einverständnis einholen sollte.

Während die Verschwörer noch Details besprachen, klingelte das Telefon. Frau Tisch nahm erschrocken ab und versuchte Stasi-Chef Mielke abzuwimmeln, der mit Krenz sprechen will. "Der Genosse Krenz ist nicht bei uns", log sie, worauf Mielke konterte: "Ich weiß, dass er da ist. Das hat er mir selber gesagt. Ich muss ihn dringend sprechen." Dann beschwor der stets bestens informierte Mielke, der längst auf der Seite der Verschwörer war, Egon Krenz, dass er schleunigst nach Hause gehen solle, weil Honecker ihn sprechen wollte.

Hastig brach Krenz auf und kam gerade noch rechtzeitig in seinem Bungalow an, um Honeckers Anruf entgegenzunehmen. Er möge doch kurz rüberkommen, meinte der SED-Chef, den Krenz wenig später in Stadtpläne von Leipzig vertieft antraf. Honecker war offenbar fest entschlossen, die Montagsdemo vom 16. Oktober doch mit Gewalt niederzuschlagen. Nur mit Mühe konnte ihn der für Sicherheit zuständige ZK-Sekretär Krenz davon abbringen. Er erinnerte ihn an einen Beschluss des Nationalen Verteidigungsrats, dem Honecker zwei Tage zuvor zähneknirschend zugestimmt hatte und der die bewaffneten Organe anwies, nur einzugreifen, wenn von den Demonstranten Gewalt ausging. "Honecker lebte in einer anderen Welt", sagte Krenz später.

Am Montag, dem 16. Oktober, demonstrierten nicht nur in Leipzig 150 000 Menschen gegen die SED, Demonstrationen gab es inzwischen auch in vielen anderen Städten der DDR.

Der zweite Akt der Demütigung Honeckers wird am 18. Oktober im großen Sitzungssaal des Zentralkomitees am Werderschen Markt gegeben. Noch weiß niemand, dass der Parteichef schon gestürzt ist, nun muss er nach stalinistischem Brauch an der Inszenierung seiner Entmachtung selbst mitwirken. 206 Mitglieder des ZK, des zweitwichtigsten Machtzentrums der DDR, betreten gegen ein Uhr nach und nach den Raum, nehmen Platz und schauen erwartungsvoll auf das Präsidium. Dass diese Sondersitzung keine Routineangelegenheit sein wird, ist allen klar. Trotzdem verschlägt es den meisten Funktionären den Atem, als Honecker ans Pult tritt und mit brüchiger, heiserer und sich manchmal überschlagender Stimme eine verlogene Erklärung abliest:

"Nach reiflicher Überlegung und im Ergebnis der gestrigen Beratung im Politbüro bin ich zu folgendem Entschluss gekommen: Infolge meiner Erkrankung und nach überstandener Operation erlaubt mir mein Gesundheitszustand nicht mehr den Einsatz an Kraft und Energie, den die Geschichte unserer Partei und des Volkes heute und künftig verlangt. Deshalb bitte ich das Zentralkomitee, mich von der Funktion des Generalsekretärs der SED, vom Amt des Vorsitzenden des Staatsrats der DDR und von der Funktion des Vorsitzenden des nationalen Verteidigungsrats der DDR zu entbinden. Dem Zentralkomitee und der Volkskammer sollte Genosse Egon Krenz vorgeschlagen werden", sagt ein sichtlich gebrochener Honecker, der so von der Rolle ist, dass er versehentlich am Schluss sogar noch die eigene Unterschrift mit vorliest.

In den Zeitungs-, Fernseh- und Rundfunkredaktionen denkt in diesen Minuten kaum jemand an Honecker. Die internationalen Nachrichtenagenturen berichten zur selben Zeit über ein furchtbares Erdbeben in San Francisco. Die Bilder aus der kalifornischen Küstenstadt sind dramatisch, sie zeigen eingestürzte Häuser, aufgerissene Highways, zerquetschte Autos.

14.16 Uhr kommt aus dem Ticker die folgende Meldung der amtlichen DDR-Nachrichtenagentur ADN: "Zum Generalsekretär des Zentralkomitees der SED hat die 9. Tagung des ZK am Mittwochnachmittag Egon Krenz gewählt. Zuvor hatte das ZK der Bitte Erich Honeckers entsprochen, ihn aus gesundheitlichen Gründen von seinen Funktionen (...) zu entbinden."

Auf einmal verliert das Erdbeben in Kalifornien gegenüber einem anderen, viel näheren Beben an Bedeutung. Dessen Epizentrum liegt am Werderschen Markt im Zentrum Ost-Berlins. Bevor Honecker am Nachmittag in seinen Citroen CX steigt, um noch einmal in das Funktionärsgetto zu fahren, das schon bald aufgelöst werden wird, sagt ihm Willi Stoph nicht ohne Häme: "Erich, es geht nicht mehr. Du musst gehen."

Fast wortgleich hatte Honecker 18 Jahre zuvor dem von ihm brutal gestürzten Vorgänger Walter Ulbricht klargemacht, dass dessen Zeit vorüber war. Stoph, Krenz, Schabowski, Mielke und die anderen Verschwörer wähnen sich an diesem 18. Oktober 1989 am Ziel. Noch wissen sie nicht, dass sie Honeckers Schicksal bald teilen werden. Auch ihre Zeit ist heute vor 20 Jahren längst abgelaufen.